Der entgrenzte Mensch
alles ist keine wirkliche Herausforderung mehr, vorausgesetzt man kann mit seinem (möglichst internetfähigen und mit einer GPS-Funktion versehenen) Handy nach Belieben Kontakt aufnehmen. Die schlimmste Bedrohung, die es für die Psyche des Menschen gibt, ist die Isolierung, die Kontaktsperre und die Erfahrung, von der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen zu werden oder ausgeschlossen zu sein. Das multifunktionelle Mobiltelefon oder das iPad vermögen um vieles effektiver als alle traditionelle Beziehungs- und »Herzens«-Arbeit diese Bedrohung aus der Welt zu schaffen.
Die Entgrenzung des Verbundenseins von psychischen Beziehungskräften mit Hilfe von Kontaktmedien zeigt sich auch dort, wo es um die Sorge um andere geht. Wenn die Tochter auf Klassenfahrt ist und der Sohn ein Schuljahr im fernen Australien verbringt, wenn die hinfällige Mutter noch immer die eigenen vier Wände dem Altenheim vorzieht und der nicht mehr ganz rüstige Senior alleine eine Bergwanderung macht, wenn der Ehepartner
nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kommt, wenn der Babysitter ausgefallen ist oder der rückfallgefährdete Strafgefangene entlassen wird, dann muss niemand mehr die Unsicherheit oder Unkenntnis über das Schicksal und Wohlergehen eines anderen ertragen. Jeder kann sich fast immer und unabhängig vom Aufenthaltsort des anderen vergewissern - notfalls mit elektronischen Fußfesseln oder Vorratsdatenspeicherungen. Trennungen als Trennungen zu erleben, Angst um jemand anderen zu haben, von negativen Fantasien gequält zu werden, dass dem anderen etwas zugestoßen sein könnte, die Fähigkeit, Ungewissheiten aushalten zu können, Vertrauen zu haben, glauben und hoffen zu können, nach Wochen der Trennung endlich wieder miteinander sprechen zu können - all dies erübrigt sich weitgehend, wenn der Kontakt und mit ihm das informelle Verbundensein sicher gestellt sind.
Die Beispiele lassen bereits ahnen, dass es durch die Entgrenzung des Verbundenseins mit Hilfe von Vernetzung und Kontaktmedien zu einer grundlegenden Veränderung der Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen kommt. Bisher setzten Beziehungsaufnahmen und die Pflege von Beziehungen persönliche Begegnungen und deren Symbolisierungen in Wort und Schrift voraus bzw. wurden durch Boten vermittelt. Um eine persönliche Begegnung geht es selbst dann noch, wenn Beziehung über das Telefon hergestellt und gepflegt wird, weil über die Stimme, den Tonfall, die Lautstärke usw. immer auch persönliche Stimmungen und Befindlichkeiten ausgetauscht werden. Gleiches lässt sich von der Handschrift sagen. Die Möglichkeit einer persönlichen Beziehungspflege wird durch die Kontaktmedien E-Mail, SMS oder Chatten im Internet nicht ausgeschlossen, doch legt die intensive und allgegenwärtige Nutzungsmöglichkeit einen anderen Gebrauch dieser Medien nahe: Statt sie zur Beziehungs pflege zu gebrauchen, dienen sie der Kontakt pflege, das heißt in erster Linie zur Sicherung des Verbundenseins.
Heute zeichnen sich viele Menschen durch eine besondere Kontaktfreude aus. Sieht man näher hin, so ersetzt diese Kontaktfreude oft das, was bisher mit »Beziehung« gemeint war und
neuerdings unter »Bindung« verstanden wird. Tatsächlich geht es bei der Kontaktpflege nicht um Beziehung im Sinne von emotionalen Bindungen und entsprechenden Gefühlen von Sehnsucht, Rücksichtnahme, Verbindlichkeit, Nähe, Treue, Vermissen, sondern um punktuelle Berührungen (Kon-takte). Entgrenztes Verbundensein macht nur dann frei, wenn durch das Verbundensein keine Verbindlichkeiten entstehen und wenn mit Beziehungsaufnahmen keine Erwartungen an Verlässlichkeit und anhaltenden Nähewünschen einhergehen. Darum wird aus der Beziehungspflege die Kontaktpflege, und geht es beim selbstbestimmten Verbundensein nicht um ein emotionales, sondern um ein »informelles«, unverbindliches Verbundensein.
Der Wandel der Beziehungsgestaltung zeigt sich auch darin, dass sich die Beziehungsfähigkeit eines Menschen daran messen lässt, zu wie vielen Menschen er oder sie Kontakt hat. Das E-Mail-Adressen-Verzeichnis und der Handynummernspeicher sind Indikatoren für die Kontaktfähigkeit. Ein Schüler, der kein Mobiltelefon hat, gilt deshalb bei seinen Altersgenossen als kontaktgestört und als Außenseiter. Und die Schülerin, die sich nicht auf der entsprechenden Internetseite outet und mitteilt und so den Kontakt offeriert, die gibt es eigentlich nicht. Es gibt kaum eine schlimmere »Erziehungsmaßnahme«, als einem
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