Der entgrenzte Mensch
Wertsetzungen und Sinnfindungen ermöglicht, ihm zugleich aber auch die Verantwortung und das Risiko sowie die Last der eigenen Wahl zumutet.
Parallel zur Entgrenzung des Sozialen in der »Risikogesellschaft« (Beck 1986) kam es auch zu einer Entgrenzung des Selbsterlebens (Keupp und Höfer 2009). Dieses kennt keine vorgegebene, sich durchhaltende, objektivierbare und definierbare Identität mehr. Vielmehr gibt es wechselnde und auch sich widersprechende Inszenierungen des Icherlebens (»Teil-Selbste«, vgl. Bilden 1998), die zu konstruieren man je neu imstande sein muss und deren Nebeneinander bei sich selbst und bei anderen zu tolerieren, ja zu wünschen ist. Jeder hat seine eigene Biografie ohne Vorgaben und Maßgaben, Zielbestimmungen und Grenzziehungen durch andere jeden Tag (und notfalls mehrmals am Tag) selbst neu zu schreiben. Das Identitätserleben definiert sich nicht durch verschiedene Rollen und Masken, in die man schlüpft oder die man aufsetzt. Dies würde ja voraussetzen, dass es noch ein sich durchhaltendes »eigentliches« Selbst gibt, das sich je anders verkleidet. Erst in der Entgrenzung von allem Eigentümlichen und Identischen und in der völlig selbstbestimmten und beliebigen Neukonstruktion des eigenen (flüchtigen) Selbst wird jene Freiheit erlebt, die grenzenlos ist.
Da diese Entgrenzungsvorgänge weitgehend Eingang ins öffentliche Bewusstsein gefunden haben, sollen hier nur jene Aspekte der Entgrenzung angesprochen werden, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Möglichkeiten digitaler Technik, der Vernetzung und der elektronischen Medien stehen.
So sehr mit der grenzenlosen Individualisierung eine Erosion und Auflösung sozialer Verbundenheit und Verbindlichkeit einhergeht, so schaffen vor allem die heute möglichen Vernetzungstechniken mit Hilfe der elektronischen Medien nicht nur neue Räume des sozialen Miteinanders und neue Formen von Sozialität, sondern auch Möglichkeiten einer entgrenzten Kontaktaufnahme und eines permanenten informellen Verbundenseins. Es sind nicht nur die Folgen einer grenzenlosen Individualisierung wie etwa die steigenden Zahlen von Single-Haushalten oder von allein erziehenden Müttern oder Vätern oder ein fälschlicherweise so bezeichneter Egoismus zu beobachten; es gibt gleichzeitig auch ein »Zusammenrücken« und Verbundenseinwollen der Menschen bei öffentlichen Ereignissen und familiären oder gesellschaftlichen Events und mit Hilfe der heute möglichen Techniken und Medien. Immer mehr Menschen wollen autonom und selbstbestimmt ihr Ich leben und von anderen Menschen unabhängig sein und gleichzeitig wollen sie - ebenso selbstbestimmt - mit anderen verbunden sein und definieren ihr Ich über das Verbundensein mit dem Wir in Gestalt von Milieus, Szenen, Gruppierungen und Lebensstilen, die zu ihnen passen.
Eine psychologische Betrachtung beider Phänomene - der grenzenlosen Individualisierung und des entgrenzten Verbundenseinwollens - macht deutlich, dass die »Ich-Orientierung« mit einem entgrenzten Verbundensein einhergeht und dass beide Weisen des Erlebens, das entgrenzte Ich-Erleben und das entgrenzte Wir-Erleben, als aktive und passive (inter-aktive) Ausdrucksweisen einer neuen Art von Autonomie, nämlich einer ich-orientierten Selbstbestimmtheit, zu verstehen sind. (Vgl. hierzu Funk 2005, S. 61-89; zur Abgrenzung dieser Art Ich-Orientierung
von Egoismus, Narzissmus, Autismus, Autoritarismus und Autonomie vgl. a.a.O., S. 56-60.) Eine solche Neukonstruktion des Ver bundenseins, ohne ge bunden zu sein, wird vor allem durch die neue Vernetzungstechnik und die elektronischen Kommunikationsmedien attraktiv gemacht.
Ob in der Erziehung, im Berufsleben oder im persönlichen Beziehungsleben - wo immer Menschen auf andere Menschen angewiesen sind, besteht die Gefahr, dass das Angewiesensein dazu benutzt wird, Abhängigkeiten zu schaffen. Genau hier bieten die elektronischen Medien und Netzwerke völlig neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung und des Alleinseins sowie veränderte Beziehungsmuster und Nähe-Distanz-Modelle. Diese zeichnen sich sowohl durch eine größere persönliche und emotionale Unabhängigkeit aus als auch durch ein stärkeres, jedoch selbstbestimmtes Verbundensein über die medialen Kontaktmöglichkeiten.
Allein zu sein, Freiheit und Unabhängigkeit von Fremdbestimmung zu wagen, für seine Lebensgestaltung selbst aufzukommen, unterwegs zu sein, in der Fremde zu leben, von allen guten Geistern verlassen zu sein - dies
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