Der entgrenzte Mensch
milchig-weißes Aussehen hat. Jackson hatte es sich unter Pseudonymen bei unterschiedlichen Ärzten besorgt und zuletzt an jedem Abend danach verlangt, seine »Milch« zu bekommen.
So offensichtlich sein Tod das Ergebnis einer immer stärker ausgeprägten Medikamentensucht ist, der Grund für seinen Tod wird dennoch nicht in der Abhängigkeitskrankheit, sondern in einer ärztlichen Fehlbehandlung gesucht, weshalb gegen seinen Leibarzt Conrad Murray wegen Todschlags ermittelt wurde. Seine nachgeborene Schwester Janet gibt fünf Monate nach dem Tod ihres Bruders in einem Fernsehinterview zwar zu, um seinen Medikamentenmissbrauch gewusst zu haben. Auch habe sie versucht, ihm zu helfen, doch ihr Bruder »sei nicht bereit gewesen, seine Schwierigkeiten zuzugeben, obwohl ihm die gesamte Familie Hilfe angeboten habe«. Zugleich macht aber auch Janet Jackson den Leibarzt für den Tod ihres Bruders verantwortlich. Ihre Schwester LaToya Jackson spricht in einem Interview mit dem britischen Sender ITV im Juni 2010 gar davon, dass er »wegen seiner Rechte an seiner Musik ermordet« wurde. Die Frage liegt nahe, ob die bereits tödliche Suchtdynamik dieser Abhängigkeitserkrankung deshalb nicht zugegeben werden kann und darf, weil sie im schärfsten Widerspruch zum Ideal des Entgrenzungsstrebens und zu dessen Idol stehen würde.
Es gibt aber unter den Fans ein noch sehr viel weiter gehendes Verleugnungsphänomen, das seine Wurzeln im Entgrenzungsstreben hat. Nicht wenige leugnen schlicht und einfach, dass Michael
Jackson überhaupt gestorben ist. Sie halten seinen angeblichen Tod für sein größtes Kunstwerk der Illusionierung. Denn nicht er, sondern ein Double sei gestorben, damit er selbst, von allen Abhängigkeiten befreit, ein gänzlich entgrenztes und befreites Leben führen könne.
Eine derartige »Verschwörungstheorie« nährt sich vor allem aus zwei Quellen. Da ist einmal der Wunsch, Jackson solle wie ein Gottessohn unsterblich und also der unüberwindbaren Grenze allen Lebens, dem Tod, nicht unterworfen sein. In einem solchen Wunschdenken wird die Sehnsucht nach einem gottgleichen Idol befriedigt, das über alle Grenzen erhaben ist, so dass man für immer in der Verbindung mit ihm und seiner Musik an seinem grenzenlosen Dasein Anteil haben kann. Zugleich erübrigt sich mit einem solchen Unsterblichkeitsglauben, dass die Fans darüber, ihn verloren zu haben, traurig sein müssten. Zu trauern würde ja dem Eingeständnis gleichkommen, dass man ihn vermisst und er einem fehlt. Traurige Gefühle vertragen sich nicht mit einem Entgrenzungsstreben, für das nichts unmöglich ist.
So ist es naheliegend, dass das eigentliche Motiv, aus dem die Idee, Jackson sei unsterblich, geboren wurde, mit seiner Botschaft zu tun hat: Wenn er für seine Fans die Personifizierung des Entgrenzungsstrebens ist und das Entgrenzungsstreben der Fans legitimiert und garantiert, dann darf er nicht sterben, weil sonst deren Entgrenzungsstreben in Frage gestellt, wenn nicht gar als sinnlos entlarvt würde. Nur so wird plausibel, warum zahlreiche Fans den Tod ihres Idols nicht hinnehmen wollen und Anhänger einer skurril anmutenden »Verschwörungstheorie« sind. Dass nicht wenige Jacksons Tod verleugnen, zeigt ein Blick ins Internet. Unter der Google-Suche Michael Jackson is still alive etwa finden sich knapp eine Million Eintragungen und unter der Michael Jackson is not dead (bzw. death) fast acht Millionen Einträge. Glaubt man der Website Michael Jackson Sightings dann ist er inzwischen auf allen Erdteilen gesichtet worden.
Im Kern geht es bei der Michael Jackson Is Alive Conspiracy um die Überwindung jeglicher Abhängigkeit. Jackson habe sich wegen
seiner finanziellen Probleme und gerichtlichen Auseinandersetzungen, aber auch angesichts seines geplanten Comeback immer unter Druck, abhängig und kontrolliert gefühlt und deshalb einen konspirativen Plan geschmiedet, mit dem er alle diese Abhängigkeiten hinter sich lassen konnte. Die letzten öffentlichen Auftritte seien bereits von einem medikamentenabhängigen und todgeweihten Double übernommen worden, der dann auch am 25. Juni 2009 gestorben sei, während Jackson selbst mit seinen Kindern an einem unbekannten Ort der Welt, befreit von allen Nachstellungen, für immer lebe und sich ganz der Musik hingebe. So zitiert Violetta Simon am 10. Juli 2009 in der Süddeutschen Zeitung einen Blogger von Michael Jackson Sightings : »Die offizielle Person namens Michael Jackson musste sterben, um den
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