Der Erdbeerpfluecker
Wagens weinte sie, bis sie sich besser fühlte.
Nachdem sie sich energisch die Nase geschnäuzt hatte, dachte sie nach. War es zu verantworten, die Mädchen allein in der Wohnung zurückzulassen?
»Geh ruhig, Mama«, hatte Jette mit vom Wein schwerer Zunge gesagt und sie förmlich zur Wohnungstür gedrängt. »Danke für deine Hilfe. Aber jetzt werden wir allein fertig, Merle und ich.«
Sollte Imke ihnen anbieten, bei ihr in der Mühle zu wohnen, bis der Mord an Caro aufgeklärt wäre?
Nein. Die Mühle lag zu weit draußen. Die Gefahr wäre dort in der Einsamkeit für die Mädchen eher größer. Falls der Mörder sie kannte. Was ja nicht sicher war.
Imke beugte sich vor, um zu den Fenstern der Wohnung hinaufsehen zu können. Alles dunkel. Sie waren also direkt ins Bett gegangen. Und sie würden tief und fest schlafen, dafür würde der Wein sorgen, den sie getrunken hatten. Tief und fest. In einer Wohnung mitten in der Stadt. In einem von zehn Parteien bewohnten Haus. Was sollte ihnen da zustoßen?
Sie putzte sich noch einmal die Nase, startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer an und fuhr los. Die Straßen waren menschenleer. Als hielte die Angst alle in ihren Häusern fest.
Unsinn. Es war inzwischen beinah ein Uhr. Die Biergärten und Straßenkneipen hatten geschlossen. Leichter Regen fiel. Es war kühl. Viel zu kühl für eine Julinacht.
Auf der Landstraße war die Dunkelheit schwarz und dicht. Vorsichtshalber drückte Imke den Schalter der Zentralverriegelung. Man konnte nie wissen. Erst neulich hatte sie von einer Frau gelesen, die an einer roten Ampel von einem Mann überfallen worden war. Er hatte einfach die Tür aufgemacht und sich zu ihr ins Auto gedrängt.
Sie machte das Radio an. Die Musik lenkte sie von ihren Gedanken ab und von dem scheußlichen Gefühl, dem Leben nicht gewachsen zu sein.
Als sie in die Auffahrt einbog, traf das Licht der Scheinwerfer das Gemäuer. Die Mühle tauchte so unvermittelt aus der Dunkelheit auf, dass Imke erschrocken die Luft anhielt. Ihre Nerven waren überreizt. Sie brauchte Ruhe. Und Schlaf.
Sie stellte den Wagen in der Scheune ab und trat auf den Kiesweg hinaus. Das Knirschen der Kiesel hallte bei jedem Schritt laut durch die Nacht. Imke zwang sich, langsam zu gehen. Für den Fall, dass jemand sie aus der Finsternis heraus beobachtete, wollte sie nicht ängstlich wirken.
Es war ihre Art, sich zu schützen. Niemand hatte je ihre Angst gesehen, wovor auch immer.
Imke war an den Treppenstufen angelangt, als ein Schatten angefegt kam. Ihr Herzschlag setzte aus. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien.
Der Schatten miaute kläglich und strich ihr um die Beine.
»Edgar!« Erleichtert bückte sie sich und hob ihn auf. »Hast du mich erschreckt.« Sie trug ihn ins Haus. Dort setzte sie ihn ab, verriegelte die Tür, ließ sämtliche Rollos herunter und machte überall Licht.
Zu Hause. In Sicherheit.
Sie dachte an Caro. Und diesmal galten ihre Tränen einzig und allein dem Mädchen, das die beste Freundin ihrer Tochter gewesen war.
Neues Opfer des Halskettenmörders
Der Mörder der achtzehnjährigen Simone Redleff hat wahrscheinlich wieder zugeschlagen. Sein jüngstes Opfer ist die achtzehnjährige Schülerin Carola Steiger aus Bröhl. Sie besuchte das Erich-Kästner-Gymnasium, dessen Lehrer und Schüler über den Tod des Mädchens tief betroffen sind.
Polizeihauptkommissar Bert Melzig bestätigte die Gemeinsamkeiten der schrecklichen Taten: In beiden Fällen wurde das Opfer in einem Wald getötet, in beiden Fällen mit sieben Messerstichen, beiden Mädchen wurde eine Halskette entwendet.
Es ist eine Sonderkommission zur Aufklärung dieser Morde und der beiden Morde in Norddeutschland (wir berichteten) gebildet worden. Sie steht unter der Leitung von Bert Melzig. Die Belohnung, die für Hinweise zur Ergreifung des Täters ausgesetzt worden ist, wurde auf siebentausendfünfhundert Euro erhöht. Vielleicht ist das der Grund für die unzähligen Anrufe, die täglich bei der Polizei eingehen. Zu einer heißen Spur hat jedoch noch keiner geführt.
Die Angst geht um in unseren Städten und Dörfern. Das wird so lange so sein, bis die Polizei endlich aktiv geworden ist.
Es war scheußlich, den Artikel zu lesen. Zu wissen, dass er bei den Leuten diesen halb entsetzten, halb wohligen Schauder auslösen würde, der sich bei Berichten über makabre Todesfälle einstellt, weil man selbst davongekommen ist und nur
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