Der Erdbeerpfluecker
Gedanken, die einem das Hirn zerfraßen.
Man entdeckte es in ihren Bildern, ihren Büchern, ihren Filmen. Und erschrak davor.
Als würde man in einen Spiegel schauen, dachte er oft. Als würde man sich selbst hunderte von Malen abgebildet sehen. Wie in einem Spiegelkabinett auf dem Rummelplatz. Immer wieder das eigene Gesicht, in einer unendlichen Linie, grausam vertraut.
Er spürte, dass er hungrig war. Oft vergaß er zu essen und bemerkte es erst, wenn er Magenschmerzen bekam. Er sah auf seine Armbanduhr. Fast neun. Vielleicht sollte er in den kleinen Dorfgasthof gehen. Er hatte keine Lust, sich selbst etwas zu kochen.
Eigentlich kochte er gern und ziemlich gut (soweit das auf den beiden primitiven Kochplatten möglich war). Hätte er das nötige Durchhaltevermögen gehabt, hätte er eine Ausbildung zum Koch machen können. Und dann auf einem Schiff anheuern.
Vielleicht hätte das alles geändert. Vielleicht hätte es ihm diese Unruhe ausgetrieben. Vielleicht hätte der Anblick endloser Wasserflächen ihn besänftigt und zu einem besseren Menschen werden lassen.
Tief in seinem Innern wusste er, dass er sich etwas vormachte. Er war, wie er war. Davor konnte er nicht weglaufen, auch wenn er es immer wieder versuchte. Unzählige Kämpfe gegen sich selbst hatte er geführt. Und sie alle verloren.
Er trat auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Auf dem Weg nach unten begegnete er niemandem. Er hörte nur die üblichen Geräusche, die aus den Zimmern drangen. Die meisten Gäste, fast alle Vertreter oder Arbeiter auf Montage, verbrachten die Abende vor dem Fernseher. Sie führten ein trauriges Leben, ein Leben im Vorbeigehen, immer unterwegs, niemals irgendwo zu Hause. Ihre Ehen hatten keinen Bestand, und selbst wenn sie nicht zerbrachen, wuchsen ihre Kinder in Abwesenheit des Vaters auf.
Neben der Haustür hing ein in Klarsichtfolie eingeschweißtes Blatt Papier mit der Hausordnung. Er ärgerte sich jedes Mal über ihren Ton.
Nach zwanzig Uhr ist die Haustür geschlossen zu halten.
Das Rauchen außerhalb der Zimmer ist strengstens untersagt.
Fernseher und Radio sind unbedingt auf Zimmerlautstärke einzustellen.
Und so weiter und so weiter.
Der Stil passte zu der Wirtin, einer lauten, schrillen Mittvierzigerin, der das Zusammenleben mit einem Alkoholiker frühe Falten ins Gesicht gegraben hatte. Sie fühlte sich für alles verantwortlich, mischte sich in alles ein. Ihre schmalen Lippen waren nach unten gezogen, sie lachte selten, und wenn, dann sonderbar unfroh und abrupt. Ihre Kleidung roch nach altem Schweiß. Darüber lag der Duft eines zu süßen Parfüms.
Er überlegte, ob er die Hausordnung abreißen sollte, ließ es jedoch bleiben. Die Handschrift gefiel ihm nicht. Er hatte das Gefühl, sich bei der Berührung damit die Finger schmutzig zu machen.
Draußen schlug ihm die Hitze entgegen. Sie war beinah so kompakt wie die Hitze in seinem Zimmer. In der Nacht würde er wieder den Ventilator laufen lassen müssen, obwohl er bei dem Surren nicht gut schlafen konnte.
Vielleicht, überlegte er, sollte er doch noch etwas unternehmen, statt im Gasthof oder in seinem Zimmer herumzusitzen. Vielleicht sollte er nach Kalm fahren. Oder nach Bröhl.
Bröhl, beschloss er. Dort würde er in aller Ruhe zu Abend essen, den Spaziergängern ein wenig zusehen, später noch eine Runde durch den Schlosspark drehen oder um einen der Seen in der Nähe.
Er ging zu seinem Wagen und startete den Motor. Wie sehr ihm das Wasser manchmal auch bis zum Hals stehen mochte, auf sein Auto und die Unabhängigkeit, die es ihm schenkte, würde er niemals verzichten.
Er ließ die Fensterscheibe auf der Fahrerseite herunter, obwohl das die Klimaanlage stören würde. Der Wind zauste ihm das Haar und trug den Duft der Erdbeeren von den Feldern herein. Frisch. Würzig. Süß.
Er atmete tief.
Manchmal schien es gar nicht so schwer, glücklich zu sein. Er schaltete das Radio ein. Tina Turner. Warum nicht? Und er sang mit und schlug den Takt mit den Fingern auf das Lenkrad.
Youre simply the best...
Selbst Vergessen schien manchmal nicht allzu schwierig zu sein.
Kapitel 3
Im Fall des Mordes an der achtzehnjährigen Simone Redleff aus Hohenkirchen geht die Polizei mehr als vierhundert Hinweisen nach. Es fehlt jedoch noch jede heiße Spur. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, wurde eine Belohnung von fünftausend Euro ausgesetzt.
Polizeihauptkommissar Bert Melzig
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