Der Erdbeerpfluecker
mitgenommen.
»Grauenvoll.« Ich stocherte in meinen Nudeln herum. Der Appetit war mir vergangen.
»Was denkt man in den letzten Sekunden?« Merle malte mit Tomatensoße Muster auf den Rand ihres Tellers. Die Zinken der Gabel benutzte sie als Pinsel. »Wenn man die Gewissheit hat, dass man sterben wird?«
»Bei Unfällen«, sagte ich, »soll in wenigen Minuten oder Sekunden das ganze Leben wie ein Film im Kopf ablaufen. Vielleicht ist das bei einem Mord ähnlich?«
Merle schüttelte den Kopf. »Ich glaube, man hat bloß Angst. Furchtbare, grässliche Angst. Man wehrt sich mit Händen und Füßen und spürt auf einmal, dass die Kraft nicht ausreicht. Vielleicht fängt man an zu beten.«
»Zu beten?«
»Wenn du sonst nichts mehr tun kannst.«
»Hör auf, Merle. Ich will mir das nicht so genau vorstellen.«
»Du steckst den Kopf lieber in den Sand.«
»Nein. Aber ich will das tote Mädchen nicht Abend für Abend vor mir sehen.«
»Okay.« Merle hüllte sich für den Rest der Mahlzeit in Schweigen.
»Hast du bemerkt, dass Caro sich wieder verletzt hat?«, fragte ich sie, als wir zum Abschluss einen Espresso tranken.
Merle nickte. »Hat wahrscheinlich mit ihrem neuen Typen zu tun.«
»Vielleicht sollten wir ihm mal auflauern, wenn sie ihn uns schon nicht vorstellt«, sagte ich.
»Nachts in einer dunklen Ecke darauf hoffen, dass er aufs Klo muss?« Merle grinste. »Besten Dank. Da warte ich lieber auf Caros Initiative.«
Wie aufs Stichwort hörten wir das Schloss der Wohnungstür aufschnappen. Caro kam in die Küche und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie warf einen Blick auf unsere Teller.
»Noch was übrig?«, fragte sie. »Ich hab einen Bärenhunger.«
Erwartungsvoll strahlte sie uns an. Sie sah glücklich aus. So glücklich, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Als wäre sie über Nacht ein anderer Mensch geworden. Und sie hatte Hunger!
Möglicherweise taten wir ihrem Liebsten Unrecht. Vielleicht war er gut für sie.
Liebster. Ein wunderschönes Wort.
»Klar ist noch was übrig«, sagte ich. Merle war schon aufgestanden, um einen Teller aus dem Schrank zu holen.
Warum sollte Caro nicht einmal in ihrem Leben Glück haben?
Die Kollegen in Norddeutschland waren freundlich und entgegenkommend gewesen. Sie hatten Bert Einsicht in die Ermittlungsarbeit gegeben, ihm ihr Material zur Sichtung überlassen und ihn zu den Tatorten begleitet. Sie hatten ihm Gutachten fotokopiert, ihm den Stand der Erkenntnisse erläutert und sich in jeder Hinsicht als gesprächsbereit erwiesen.
Die Morde lagen zwölf und vierzehn Monate zurück. Kaum jemand sprach noch darüber. Für die Presse waren sie längst kein Thema mehr.
Sämtliche Untersuchungsmöglichkeiten der Polizei waren ausgeschöpft worden und hatten zu keinem konkreten Ergebnis geführt. Ein Albtraum für jeden guten Kripobeamten.
Zwei Morde in so kurzer Zeit, überlegte Bert, als er sich wieder auf der Heimfahrt befand, und dann erst ein Jahr später der nächste, passte das ins Bild eines Serienmörders? Er beantwortete sich die Frage mit ja. Für den Täter mussten verschiedene Dinge zusammenkommen: Motivation, Opfer, Tatort und Gelegenheit. Wenn eine der Komponenten fehlte, konnte er nicht aktiv werden.
Möglicherweise hatten sie es hier aber auch mit einem Täter von hoher Intelligenz zu tun. Einem Täter der es nicht nur geschickt vermied, Spuren zu hinterlassen, sondern auch bewusst gegen die Statistik agierte. Denn in der Regel wurden die Abstände zwischen Serienmorden eher kleiner als größer.
Die Opfer waren in beiden Fällen junge Mädchen, die eine siebzehn, die andere zwanzig Jahre alt. Beide waren blond gewesen und hatten langes Haar gehabt. Beiden waren die Haare abgeschnitten worden. Beide hatten eine Halskette getragen, die man nicht mehr bei ihnen gefunden hatte.
Beide waren erstochen worden. Beide mit sieben Stichen.
Mein Gott, dachte Melzig erschrocken, wie kann man sich in einem Rausch so beherrschen? Oder hatte es gar keinen Rausch gegeben? War es möglich, dass ein Mann ein Mädchen vergewaltigte und ermordete und dabei nach einem kalten Ritual vorging?
Bert empfand für jeden Täter anders. Die Gefühle legten sich gleich von Anfang an fest. Dieser Täter hier machte ihm Angst. Und das war etwas Besonderes. Das hatte er so noch nie erlebt.
Die Fotos vom Tatort zeigten bei beiden Toten den gleichen Gesichtsausdruck wie bei Simone Redleff. In den weit geöffneten Augen stand fassungsloses Staunen.
Das eine
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