Der Erdbeerpfluecker
Großmutter hatte nicht eingegriffen. Sie hatte alles hingenommen, was ihr Mann getan hatte, denn für sie war er rechtschaffen gewesen und gut. Und Rechtschaffenheit und Güte, das hatte sie in der Kirche gelernt, gingen häufig einher mit Härte und Strenge.
Meistens musste Georg dem Großvater für die Züchtigungen in die Scheune folgen. Sie lag hinter dem Haus und man konnte auf der Straße nicht hören, was dort vor sich ging.
Georg hatte sich oft gefragt, ob die Großmutter tatsächlich nichts gewusst hatte. Er hatte versucht, in ihren Augen zu lesen. Aber die Großmutter war eine unnahbare Frau gewesen. Sie hatte sich immer unter Kontrolle gehabt.
Arbeit muss schwitzen machen. Ordnung ist das halbe Leben. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Undank ist der Welten Lohn. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Man hätte ein Lexikon mit den Lebensweisheiten des Alten bestücken können. Er sagte sie nicht einfach so dahin - er erwartete, dass Georg sich danach richtete. Tat er es nicht, zog Großvater seinen Gürtel ab.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Es tat weh.
»Da hast dus!«
Furchtbar weh.
»Ich werds dir zeigen, ein für alle Mal!«
Der Riemen brannte auf der Haut.
»Du wirst uns keine Schande machen! Du nicht!«
Danach lag Georg im düsteren, staubigen Licht der Scheune. Leo, der Hund, der sich ängstlich in einer Ecke verkrochen hatte, kam zögernd hervor, leckte ihm das Gesicht und ließ sich neben ihm nieder. Stunden konnten sie so nebeneinander liegen. Es kümmerte keinen. Niemand kam, um nach ihnen zu sehen.
Auch Leo wurde geschlagen und getreten.
Sie führten beide ein Hundeleben.
Caro betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Alle sagten, sie sei zu dünn, aber sie hatte noch immer das Gefühl, einen viel zu schweren, plumpen Körper mit sich herumzuschleppen. Der Spiegel zeigte ihn ihr etwa bis zur Taille. Sie konnte die Wunden an ihren Armen erkennen und die Narben der alten Verletzungen.
Tränen traten ihr in die Augen. Wie hilflos sie sich fühlte, wenn er nicht bei ihr war. Allem ausgeliefert, vor allem sich selbst.
»Ich werde dich füttern«, hatte er gesagt. »Bis du rund bist und dich gut anfühlst.«
Aber er fasste sie auch so gern an. Seine Hände waren groß und sicher. Sie kuschelte sich an ihn und fühlte sich aufgehoben und geschützt.
»Wie ein Kind bist du«, hatte er an ihrem Ohr gemurmelt.
Wie ein Kind. Genau das wollte sie nie mehr sein.
Diesmal war alles richtig. Sie war wie ein junges Tier. Ihre Schönheit lag unter einer eckigen, sperrigen Hülle verborgen und war nur für ihn da. Er entdeckte sie nach und nach und nahm sich Zeit dafür.
In ihren Augen las er keine Antworten. Sie waren voller Fragen. Er war bereit, sie zu beantworten. Irgendwann. Er würde alles für dieses Mädchen tun.
Unmerklich begann er, Frieden mit sich und der Welt zu schließen. Das war ein schwieriger Prozess, der sicherlich sein halbes Leben lang andauern würde. Alles war möglich. Solange sie ihm zur Seite stand.
Unschuld. Caro war nur ein anderes Wort dafür.
Die Erdbeerpflücker waren wieder auf den Feldern. Der Bauer stellte gerade einen dritten Anhänger am Feldrand ab. Die ersten beiden waren schon reichlich beladen. Ein Mädchen, kaum älter als ich, trug eine volle Kiste nach vorn. Trotz der Last, die sie schleppte, war ihr Gang so leichtfüßig, dass er an einen Tanz erinnerte.
Keiner der Männer sah ihr nach. Dabei hätten sich alle die Hälse verdrehen müssen. Ein schönes Mädchen, selbst in ihrer Arbeitskleidung, einer unförmigen Trägerhose mit einem lappigen T-Shirt darunter. Sie hatte ihr Haar mit einem Kopftuch vor der Sonne geschützt. Ein paar blonde Strähnen blitzten darunter hervor.
Das alles bemerkte ich mit einem Blick, dann war ich vorbeigefahren und musste in die Straße einbiegen, die zum Haus meiner Mutter führte.
Die Mühle lag einsam in der Hitze des Nachmittags. Es war, als wäre sie von einer flirrenden Aura umgeben. Ich hatte vor kurzem gelesen, in alten Pfarrhäusern und Mühlen spuke es bedeutend mehr als anderswo. Das hatte mein Gefühl verstärkt, dass dieses Gebäude schwer an seiner Geschichte trug, von der wir, trotz emsiger Nachforschungen meiner Mutter, noch längst nicht alles in Erfahrung gebracht hatten.
Der Wagen meiner Großmutter, ein roter Charade, stand bereits da und man sah ihm an, wie flüchtig er abgestellt worden war.
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