Der Erdrutsch (German Edition)
dreht sie sofort durch. Manchmal hat sie einen guten
Tag, dann lacht sie. An solchen Tagen kann ich sogar mit ihr in die
Stadt gehen. Aber nur, wenn sie sich über nichts aufregt. Es braucht
nur ein Auto neben ihr zu hupen, dann fängt sie an zu schreien.
Einfach so. Sie hört dann nicht mehr auf. Bis ihr irgendwann die
Luft ausgeht.
Über die Zeit der Entführung und die Monate danach weiß ich nur
aus Erzählungen und aus den Akten, die ich gefunden habe, als ich in
eurem Alter auf dem Dachboden meiner Tante nach Büchern gesucht
habe. Erinnern kann ich mich daran nicht.
Aus diesen Akten weiß ich auch von dem Geld. Das hat sie damals
meinem Vater gegeben. Eine edle Tat. Aber leider völlig sinnlos. Er
hat es nämlich auf seinen Namen angelegt und ist dann verschwunden.
Ich komme nur dann an das Geld heran, wenn er tot ist. Dann könnten
meine Mutter, mein Bruder und ich es erben. Aber ich kann meiner
Mutter den Tod ihres Mannes nicht zumuten. Das einzige, woran sie
sich immer wieder festhält, das ist die Hoffnung, dass mein Vater
eines Tages zurückkehrt. Einmal habe ich versucht, ihr ganz
vorsichtig zu erklären, dass das vermutlich nie geschehen wird. Aber
da hat sie sich sofort so aufgeregt, dass sie ein starkes
Beruhigungsmittel brauchte. Als es vorbei war, dann hat sie mir das
Versprechen abgenommen, den Glauben an die Rückkehr meines Vaters
nicht zu verlieren. Sie habe ja auch an meine Rückkehr geglaubt.
Mein Bruder lebt heute auf der Straße. Eine eigene Wohnung hat er
noch nie gehabt. Seit er 12 ist, nimmt er Drogen. Sein Geld holt er
sich vom Sozialamt, wenn das nicht reicht, dann geht er auf den
Strich. Er klaut, was das Zeug hält. Einmal habe ich ihn zu mir
mitgenommen, habe ihn gebadet, ihm etwas zu Essen gemacht, einen
netten Abend mit ihm verbracht. Das war schön. Wie mit einem
richtigen Bruder. Am nächsten morgen war er weg. Und mit ihm meine
Kreditkarte, mit der er sich in der Zwischenzeit fast 5.000 Euro
abgehoben hatte. Alle Geräte, die er tragen konnte, hat er aus der
Wohnung mitgenommen. Er hat mir sogar einen kurzen Brief geschrieben,
in dem er sich für den netten Abend bedankte. Zu dem, was er mir
damit angetan hat, hat er keinen Bezug. Versteht mich richtig, mir
geht es nicht um das Geld und einen iPod. Es geht darum, dass mein
eigener Bruder mich beklaut, dass er überhaupt kein
Unrechtsbewusstsein dabei hat. Das geht nicht in meinen Kopf hinein.
Jahrelang habe ich versucht, diese Frau zu finden. Aber sie hatte
ihren Namen geändert. Und den neuen Namen habe ich nicht alleine
herausgefunden. Auf die Idee, dass sie den Mädchennamen ihrer Mutter
angenommen haben könnte, war ich einfach nicht gekommen. Mal ganz
abgesehen davon, dass ich den auch gar nicht kannte.
Und dann stand sie plötzlich vor mir. Ich glaube, sie hat mich auch
erkannt. Nachdem man mir gesagt hatte, wer sie ist, als ich sie an
den folgenden Tagen immer wieder gesehen habe, da wurde mir klar,
dass ich nur dann wieder einen Sinn in mein Leben bringen konnte,
wenn sie nicht länger in der Welt herumläuft.“
Erschöpft verstummte Oskar. Seine Stimme war heiser geworden. Er
räusperte sich, trank einen Schluck seines kalten Kaffees und
betrachtete Johan. Nach einer Weile hob Johan den Kopf.
„ Dann
hast du ja jetzt erreicht, was du wolltest, oder?“, sagte er
tonlos.
Oskar nickte kaum merklich.
„ Ich
möchte den Bericht dennoch gerne veröffentlichen lassen. Es ist
ihre letzte Arbeit. Sie hat es verdient, ein wenig Respekt zu
bekommen.“ Johan wirkte entschlossen.
„ Überleg'
es dir bitte noch einmal, ob du das wirklich tun willst.“ Er dachte
nach, bevor er fortfuhr: „Ich bleibe auch bei meinem alten Angebot.
Ich helfe dir bei der journalistischen Arbeit.“
46. Kapitel
Oskar hatte ihn noch einmal angerufen. Wieder hatte er versucht,
Johan davon zu überzeugen, dass es richtig sei, Elsbeths Artikel
nicht zu veröffentlichen. Aber Johan blieb bei seiner Position. Er
hatte lange mit Paul darüber gesprochen, der ihm geraten hatte, das
Thema auf sich beruhen zu lassen. Er vertrat die Meinung, dass Oskar
genug Leid in seinem Leben erlitten habe, dass er mit dem Verlust
seiner Familie schon sehr gestraft sei, dass ihm ein wenig Erfolg
vergönnt sein solle.
Eines Tages stand Oskar vor der Tür. Johan war allein zuhause, lag
auf seinem Bett und las. Als es klingelte, schreckte er hoch, dachte
sich dann aber nichts dabei. Er drückte den Türsummer.
An den Schritten hörte er bereits, wer es war. Da
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