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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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wisse, dem er sie in Obhut hätte geben können. Das Vorzimmer, in dem er genötigt worden war, sie zu deponieren, lag weit hinter ihm; er hatte den Korb dort nicht gesehen, als sie es durchschritten hatten. Jetzt würde er das Kätzchen nimmer wiederfinden; es war einen halben Palast entfernt, unzählige Gänge, Hallen, Fluren, Türen ...
    Sein Führer verbeugte sich und ließ ihn zurück in einem kleinen, hübschen Zimmer, welches geschmückt war mit Wandbehängen und Teppichen, versehen mit einem Fenster mit Hafenblick und möbliert mit einem Stuhl mit bestickter Sitzfläche sowie einem Tisch, auf dem eine Schale mit Sommerfrüchten und ein Krug Wasser standen. Und der Geflügelkorb.
    Er öffnete den Korb. Schleppi entstieg ihm in gemächlicher Manier, die auf seine Vertrautheit mit Palästen hindeutete. Das Kätzchen streckte sich, beschnupperte Erles Finger zur Begrüßung und begab sich auf einen Erkundungsgang durch das Zimmer. Es entdeckte einen mit einem Vorhang verhüllten Alkoven mit einem Bett darinnen, von dem er sogleich mit einem eleganten Sprung Besitz ergriff. Ein diskretes Klopfen war an der Tür zu hören. Ein junger Mann kam herein. Er trug eine große, flache, schwere Holzkiste ohne Deckel. Er verbeugte sich vor Erle und murmelte: »Sand, Herr.« Daraufhin stellte er die Kiste in die hinterste Ecke des Alkovens. Er verbeugte sich erneut und ging hinaus.
    »Nun denn«, sagte Erle und setzte sich auf das Bett. Er war es nicht gewohnt, mit dem Kätzchen zu reden. Ihre Beziehung war eine solche der stummen, vertrauensvollen Berührung. Aber er musste mit jemandem reden. »Ich habe heute den König kennen gelernt«, sagte er.
     
    Der König wiederum hatte gar zu viele Leute, mit denen er reden musste, bevor er sich endlich auf sein Bett setzen konnte. Die wichtigsten davon waren heute die Abgesandten des Hohen Königs der Kargs. Sie waren im Begriff, sich zu empfehlen, nachdem sie ihre Mission in Havnor beendet hatten - zu ihrer Zufriedenheit wohl, wenn auch überhaupt nicht zu der Lebannens.
    Er hatte dem Besuch dieser Botschafter erwartungsvoll entgegengeblickt, als Höhepunkt jahrelanger geduldiger und zäher Verhandlungen. In den ersten zehn Jahren seiner Amtszeit hatte er überhaupt nichts bei den Kargs zu erreichen vermocht. Der Gottkönig in Awabath hatte seine Angebote bezüglich Verhandlungen über Handelsbeziehungen abgelehnt und seine Emissäre zurückgeschickt, ohne sie überhaupt angehört zu haben. Götter, so hatte er erklärt, verhandelten nicht mit gemeinen Sterblichen, und schon gar nicht mit verfluchten Zauberern. Aber auf des Gottkönigs Proklamation eines allumfassenden Gottesreiches waren doch nicht die angedrohten Flotten von Myriaden Schiffen mit federgeschmückten Kriegern an Bord gefolgt, die den gottlosen Westen überrennen sollten. Sogar die Piratenüberfälle, welche die östlichen Inseln des Archipels so lange heimgesucht hatten, ließen allmählich nach. Die Piraten waren zu Schleichhändlern geworden, die bestrebt waren, so viel an unerlaubten Gütern aus Karego-At herauszuschmuggeln und gegen Eisen, Stahl und Bronze aus dem Archipel einzutauschen, wie sie nur konnten, denn die kargischen Lande waren arm an Bergwerken und Metallen.
    Von diesen Schwarzhändlern kam zum ersten Mal die Nachricht vom Aufstieg des Hohen Königs.
    Auf Hur-at-Hur, dem großen, armen und östlichsten Eiland des Kargadreiches, hatte sich ein Kriegsherr namens Thol unter Berufung auf seine angebliche Abstammung von Thoreg von Hupun und dem Gott Wuluah zum Hohen König jenes Landes aufgeschwungen. Als Nächstes hatte er Atnini erobert und sodann mit einer Flotte und einem Invasionsheer, welche er sowohl aus Hur-at-Hur als auch aus Atnini zusammengezogen hatte, seinen Herrschaftsanspruch auf die reiche Zentralinsel Karego-At geltend gemacht. Während seine Krieger sich auf die Hauptstadt Awabath vorgekämpft hatten, hatten sich die Einwohner der Stadt gegen die Tyrannei des Gottkönigs empört. Sie hatten die Hohepriester gemetzelt, die Bürokraten aus den Tempeln gejagt, hatten die Tore geöffnet und König Thol einen triumphalen Empfang bereitet, mit Jubel, Fahnengeschwenk und Tanz auf den Straßen.
    Der Gottkönig war mit den Überresten seiner Gardisten und Hierophanten zur Stätte der Gräber auf Atuan geflohen. Dort in der Wüste, in seinem Tempel bei den vom Erdbeben verwüsteten Ruinen des Schreines der Namenlosen, hatte ihm einer seiner Priester-Eunuchen die Kehle durchgeschnitten.
    Thol

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