Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
der Ratte über die Deckplanken schleppte, taufte er es auf den Namen Schleppi. Erle übernahm diesen Namen.
    Sie segelten durch die Meerenge von Ebavnor und schließlich durch die Pforten der Havnor-Bucht. Bald tauchten in der Ferne die weißen Türme der Stadt im Zentrum der Welt aus dem Dunst auf. Erle stand im Bug, als sie in die Stadt einfuhren, und als er nach oben blickte, sah er auf der Zinne des höchsten Turmes ein gleißend-silbernes Licht aufblitzen: das Schwert Erreth-Akbes.
    Er wünschte sich, er könne an Bord bleiben und weiterfahren und müsste nicht an Land gehen, hinein in die große Stadt zu all den großen Leuten mit einem Brief für den König. Er wusste, dass er kein geziemender Bote war. Warum war gerade ihm eine solch schwere Bürde auferlegt worden? Wie war es zu erklären, dass ein kleiner Dorfhexer, der nichts von höheren Dingen und geheimen Künsten verstand, berufen ward, diese Reisen von Land zu Land, von Magier zu Monarch, von den Lebenden zu den Toten zu unternehmen?
    Er hatte gegenüber Sperber diese seine Bedenken angemeldet. »Das geht alles über meinen Horizont«, hatte er gesagt. Der alte Mann hatte ihn eine Weile angeschaut und dann erwidert, wobei er ihn bei seinem wahren Namen genannt hatte: »Die Welt ist ungeheuer groß und wundersam, Hara, aber nicht größer und wundersamer als unser Geist. Denk hin und wieder daran.«
    Hinter der Stadt verdunkelte sich der Himmel: ein Unwetter braute sich zusammen. Die Türme leuchteten weiß vor dem purpurschwarzen Hintergrund, und Möwen kreisten wie stiebende Funken über ihnen.
    Die Schöne Rose wurde vertäut, der Landungssteg wurde heruntergelassen. Diesmal wünschten die Matrosen ihm alles Gute, als er sein Bündel schulterte. Er hob den zugedeckten Geflügelkorb auf, in dem Schleppi geduldig ausharrte, und ging an Land.
    Groß war das Gewirr der Straßen, und allenthalben herrschte geschäftiger Verkehr, aber der Weg zum Palast war nicht zu verfehlen, und er wusste nicht, was er anderes hätte tun sollen, als sich dorthin zu begeben und zu sagen, dass er einen Brief für den König vom Erzmagier Sperber zu überbringen habe.
    Und das tat er - viele Male.
    Von Wachtposten zu Wachtposten, von Beamten zu Beamten, von der breiten Außentreppe des Palastes zu hoch gelegenen Vorzimmern, Treppenhäusern mit goldenen Geländern, Amtszimmern mit kunstvollen Wandbehängen, über Flure und durch Gänge aus Fliesen, Marmor und Eichenholz, unter Decken, gewölbt, bemalt, getäfelt, und Gebälk hindurch arbeitete er sich vor, unverdrossen sein Sprüchlein aufsagend: »Ich komme von Sperber, dem einstigen Erzmagier, mit einem Brief für den König.« Er weigerte sich standhaft, seinen Brief anderweitig preiszugeben. Ein stetig wachsendes Gefolge von argwöhnischen, nur mühsam die Gebote der Höflichkeit wahrenden, herablassenden, zäh hinhaltenden Wächtern, Türstehern und Beamten scharte und drängte sich um ihn und hemmte ihn auf seinem mühsamen Weg in den Palast.
    Doch plötzlich waren sie alle mit einem Schlag fort. Eine Tür war aufgegangen. Sie schloss sich hinter ihm.
    Er stand allein in einem ruhigen Zimmer. Ein großes Fenster gestattete einen weiten Blick über die Dächer nach Nordwesten. Die Gewitterwolken hatten sich verzogen, und der mächtige graue Gipfel des Onn-Berges schwebte wie eine Krone über fernen Hügeln.
    Eine weitere Tür öffnete sich. Ein Mann kam herein. Er war ungefähr in Erles Alter und ganz in Schwarz gekleidet. Er bewegte sich behände und geschmeidig. Sein fein geschnittenes, klares, energisches Gesicht war glatt wie Bronze. Er kam geradewegs auf Erle zu. »Meister Erle, ich bin Lebannen.«
    Er streckte die Rechte aus, um Erles Hand zu berühren, Innenfläche an Innenfläche, wie es auf Ea und den Enladen Sitte war. Erle reagierte automatisch auf die vertraute Geste. Dann fiel ihm ein, dass er wohl niederknien oder sich zumindest verbeugen müsse, aber der rechte Augenblick dafür schien bereits verpasst. Er stand unschlüssig da.
    »Ihr kommt von meinem Herrn Sperber? Wie geht es ihm? Ist er wohlauf?«
    »Ja, Herr. Er schickt Euch ...« Erle nestelte hastig in seiner Jacke nach dem Brief, den er dem König eigentlich kniend hatte übergeben wollen, wenn man ihn endlich in den Thronsaal geführt hätte, wo der König auf seinem Thron sitzen würde. »... diesen Brief, Herr.«
    Der Blick, der ihn musterte, war wach, höflich und von der gleichen unerbittlichen, unbestechlichen Schärfe wie der von Sperber,

Weitere Kostenlose Bücher