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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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sehen. »Es wird nur eine Minute dauern«, sagte er sich und ging zur Tür, den Besucher zu empfangen. Es war eine Frau. Ihr Haar war dunkel mit einem leichten Rotton darin, ihr Antlitz war schön und voller Kummer. »Ihr müsst ihn zu mir schicken«, sagte sie. »Ihr werdet ihn zu mir schicken, nicht wahr?« Seppel dachte: Ich weiß nicht, wen sie meint, aber ich muss so tun, als wüsste ich es, und er sprach: »Das wird nicht leicht sein, müsst Ihr wissen.« Da zog die Frau ihre Hand zurück, und er sah, dass sie einen Stein hielt, einen schweren Stein. Verdutzt glaubte er, sie wolle damit nach ihm werfen oder ihn damit niederschlagen, und als er erschrocken vor ihr zurückwich, erwachte er in der Dunkelheit der Kajüte. Er lag da und lauschte den Atemzügen der anderen Schläfer und dem Glucksen und Gurgeln des Meeres entlang der Schiffswand.
    In seiner Koje auf der anderen Seite der kleinen Kajüte lag der Zauberer Onyx auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit; er glaubte, seine Augen wären offen, er wähnte sich wach, aber er dachte auch, dass viele dünne Schnüre um seine Arme und Beine, seine Hände und seinen Kopf geschlungen wären und dass alle diese Schnüre hinaus in die Dunkelheit liefen, über Land und Meer, über die Krümmung der Welt: und die Schnüre zogen und zerrten an ihm, sodass er und das Schiff, auf dem er sich befand, und all seine Passagiere sacht, ganz sacht zu dem Ort gezogen wurden, wo das Meer austrocknete, wo das Schiff still auf Grund liefe, auf toten Sanden. Aber er konnte weder sprechen noch irgendetwas tun, weil sein Mund und seine Augenlider zugeschnürt waren.
    Lebannen war in die Kajüte herunter gekommen, um eine Weile zu schlafen, da er im Morgengrauen, wenn die Insel Rok in Sicht käme, frisch sein wollte. Er schlief bald ein, und seine Träume flogen schnell dahin und änderten sich ständig: ein grüner Hügel über dem Meer; eine Frau, die lächelte und ihm, indem sie die Hand hob, zeigte, dass sie die Sonne aufgehen lassen konnte; ein Bittsteller an seinem Gerichtshof in Havnor, von dem er zu seinem Entsetzen und zu seiner Schande erfuhr, dass die Hälfte der Einwohner seines Königreiches in verschlossenen Räumen unter Häusern verhungerte, und ein Kind, das ihm zurief: »Komm zu mir!«, das er aber nicht finden konnte ... Während er schlief, hielt seine rechte Hand den Stein in dem kleinen Amulettbeutel, den er um den Hals trug, fest umklammert.
    In der Deckskajüte über diesen Träumern träumten die Frauen. Seserakh ging hinauf in die Berge, die wunderschönen, geliebten Wüstenberge ihrer Heimat. Aber sie ging auf dem verbotenen Weg, dem Drachenpfad. Menschenfüße durften diesen Pfad nicht berühren, ja nicht einmal überqueren. Der Staub, der auf ihm lag, fühlte sich weich und warm unter ihren nackten Sohlen an, und obgleich sie wusste, dass sie es nicht durfte, ging sie weiter, bis sie schließlich den Blick hob und sah, dass die Berge nicht die waren, die sie kannte, sondern schwarze, zerklüftete Klippen, die sie niemals würde erklimmen können. Aber sie musste sie erklimmen.
    Irian flog vergnügt auf dem Sturmwind, aber der Sturm sandte Schlingen aus Blitzen über ihre Schwingen, die sie nach unten zogen, auf die Wolken zu, und als sie näher kam, sah sie, dass es keine Wolken waren, sondern schwarze Klippen, eine schwarze und zerklüftete Gebirgskette. Ihre Schwingen waren mit Schnüren aus Blitzen an ihren Leib gefesselt, und sie fiel wie ein Stein in die Tiefe.
    Tehanu kroch durch einen Tunnel tief unter der Erde. Es gab nicht genug Luft zum Atmen, und der Tunnel wurde immer enger, je weiter sie kroch. Es gab kein Zurück. Aber die schimmernden Wurzeln von Bäumen, die durch die Erde hindurch in den Tunnel wuchsen, dienten ihr als Haltegriffe, an denen sie sich weiter in die Dunkelheit ziehen konnte.
    Tenar erklomm die Stufen zum Thron der Namenlosen an der Heiligen Stätte von Atuan. Sie war sehr klein, und die Stufen waren sehr hoch, sodass sie diese nur mit Mühe erklimmen konnte. Als sie jedoch die vierte Stufe erreichte, hielt sie nicht inne und wandte sich um, wie die Priesterin es ihr eingeschärft hatte. Sie ging weiter. Sie erklomm die nächste Stufe und die nächste und die übernächste, unter einer Staubschicht, die so dick war, dass sie die Stufen zudeckte und sie sie ertasten musste. Kein Mensch hatte je seinen Fuß hierher gesetzt. Sie ging hastig, denn hinter dem leeren Thron hatte Ged etwas liegen lassen oder verloren, etwas, das

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