Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
enge Kajüte, legte sich, da die Kojen allesamt belegt waren, in eine Hängematte und schlief ein paar Stunden. Noch vor dem Morgengrauen wachte er auf, ruhelos wie immer, und ging hinauf an Deck.
Der Tag erwachte so hell und strahlend und ruhig, als hätte es nie ein Unwetter gegeben. Lebannen stand an der vorderen Reling und sah den ersten Sonnenstrahl über das Wasser gleißen, und ein altes Lied kam ihm in den Sinn:
O meine Freude!
Bevor das strahlende ta war, bevor Segoy
die Inseln ins Dasein rief,
wehte der Morgenwind über die See.
O meine Freude, sei frei!
Es war ein Fragment einer Ballade oder eines Wiegenliedes aus seiner Kindheit. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Es hatte eine hübsche Melodie. Er sang es leise und ließ den Wind die Worte von seinen Lippen davontragen.
Tenar trat aus der Kajüte, und als sie ihn gewahrte, kam sie zu ihm. »Guten Morgen, mein lieber Herr«, sagte sie, und er begrüßte sie liebevoll; er erinnerte sich zwar, dass er wütend auf sie gewesen war, aber er wusste nicht mehr, warum, und wie er überhaupt wütend auf sie hatte sein können.
»Nun, habt ihr Karg gestern Nacht auch noch Havnor gewonnen?«, fragte er.
»Nein, du kannst Havnor behalten. Wir sind zu Bett gegangen. Die Jüngeren fläzen sich dort noch immer. Werden wir heute Rok sichten?«
»Nein, erst morgen früh. Aber wir sollten vor Mittag in Thwil sein. Wenn sie uns denn an die Insel herankommen lassen.«
»Wie meinst du das?«
»Rok schützt sich vor ungebetenen Besuchern.«
»O ja, Ged erzählte mir davon. Er war einst auf einem Schiff, das versuchte, dorthin zurückzufahren, und sie sandten den Wind wider ihn, den Rokwind, wie er ihn nannte.«
»Wider ihn?«
»Das ist lange her.« Sie lächelte vergnügt, als sie sein ungläubiges Staunen sah. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendjemand sich gegenüber Ged jemals einen solchen Affront herausgenommen haben konnte. »Als er einmal als kleiner Junge mit der Dunkelheit herumexperimentiert hatte. So hat er es mir jedenfalls erzählt.«
»Als erwachsener Mann hat er immer noch mit ihr herumexperimentiert.«
»Heute tut er's jedenfalls nicht mehr«, sagte Tenar fröhlich.
»Nein, jetzt müssen wir das.« Sein Gesicht hatte sich verdüstert. »Ich wünschte, ich wüsste, womit wir herumexperimentieren. Ich bin sicher, dass die Dinge auf irgendeine große Veränderung zusteuem - wie Ogion es weissagte, wie Ged es Erle voraussagte. Und ich bin ebenso sicher, dass Rok der Ort ist, wo wir sein müssen, um dieser Veränderung zu begegnen. Aber darüber hinaus weiß ich nichts. Ich weiß nicht, womit wir es zu tun haben. Als Ged mich in das dunkle Land mitnahm, kannten wir unseren Feind. Als ich die Flotte gegen Sorra führte, wusste ich, was das Übel war, das ich zerstören wollte. Aber jetzt ... Sind die Drachen unsere Feinde oder unsere Verbündeten? Was ist fehlgelaufen? Was müssen wir tun - oder nicht tun? Werden die Meister von Rok es uns sagen können? Oder werden sie ihren Wind gegen uns richten?«
»Aus Angst vor ...?«
»Aus Angst vor dem Drachen. Dem, den sie kennen. Oder dem, den sie nicht kennen ...«
Auch Tenars Gesicht hatte sich verdüstert, aber nun hellte es sich allmählich wieder auf, und sie lächelte. »Was für einen bunt gescheckten Haufen du ihnen da aber auch anschleppst!«, sagte sie. »Einen Schwarzkünstler mit Albträumen, einen Hexer von Paln, zwei Drachen und zwei Karg. Die einzigen respektablen Fahrgäste auf diesem Schiff sind du und Onyx.«
Lebannen war indes nicht nach Lachen zumute. »Wenn nur er bei uns wäre«, sagte er.
Tenar legte die Hand auf seinen Arm. Sie setzte zum Reden an, unterließ es aber.
Er legte seine Hand auf ihre. So standen sie schweigend eine Weile da, Seite an Seite, und blickten auf die tanzende See.
»Die Prinzessin hat etwas, das sie dir sagen möchte, bevor wir nach Rok kommen«, brach Tenar nach einer Weile das Schweigen. »Es ist eine Geschichte aus Hur-at-Hur. Dort in ihrer Wüste erinnern sie sich an gewisse Dinge. Ich glaube, was sie dir erzählen möchte, geht auf etwas zurück, das weiter in der Vergangenheit liegt als alles, was ich je gehört habe, außer der Geschichte vom Weib aus Kemay. Es hat etwas mit Drachen zu tun ... Es wäre nett von dir, wenn du auf sie zugehen und sie danach fragen würdest, damit sie dich nicht bitten muss.«
Angesichts der Vorsicht und der Behutsamkeit, mit der sie sprach, fühlte er eine leise aufflammende Ungeduld,
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