Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Löcher, die Kuppel hat Sprünge, zwischen den Wänden rennen Mäuse herum, Eulen und Fledermäuse fliegen aus und ein … Aber die Thronhalle wird den Gottkönig mit seinen ganzen Tempeln überdauern und alle Könige, die nach ihm kommen! Sie stand schon, bevor sie kamen, und sie wird noch stehen, wenn sie nicht mehr sind. Hier ist das Herz, hier ist der Anfang aller Dinge!«
»Hier ist der Anfang aller Dinge!«
»Es gibt hier auch Reichtümer. Thar spricht ab und zu darüber. Zehnmal mehr gibt es hier, als die Tempel des Gottkönigs fassen könnten! Gold und Edelsteine und Siegestrophäen gibt es hier, die vor Urzeiten geopfert wurden, vielleicht vor hundert Generationen, wer weiß! Die liegen da unten in den unterirdischen Gewölben und Verliesen. Dahin haben sie mich noch nicht geführt, das verschieben sie immer wieder. Aber ich kann mir vorstellen, wie es da unten aussieht. Unter der Thronhalle liegen Räume, unter der ganzen Stätte gibt es Gewölbe, selbst unter uns, wo wir jetzt stehen, gibt es irgendwelche Räumlichkeiten. Es gibt da unzählig viele Gänge, ein richtiges Labyrinth. Es sieht aus wie eine große dunkle Stadt, die unter dem Hügel verborgen liegt, und sie ist angefüllt mit Gold, den Schwertern ehemaliger Krieger, alten Kronen und Gebeinen und Jahren und Schweigen …«
Sie sprach wie in Trance, wie in Ekstase. Manan beobachtete sie. Auf seinem runden Gesicht lag gewöhnlich ein Zug von Trauer. Doch jetzt war es noch trauriger als sonst. »Ja, und du bist die Herrin über all das«, sagte er, »über das Schweigen und die Dunkelheit.«
»Stimmt! Aber sie zeigen mir nichts, nur die Räume, die sich hier oben befinden. Nicht einmal den Zugang zu den unterirdischen Gewölben haben sie mir gezeigt! Nur manchmal machen sie Andeutungen. Sie enthalten mir mein eigenes Reich vor! Warum lassen sie mich warten und warten?«
»Du bist noch jung. Es kann auch sein«, sagte Manan in seiner rauhen Altstimme, »daß sie Angst haben, Kleines. Denn schließlich ist es nicht ihr Reich, sondern deines. Sie begeben sich in Gefahr, wenn sie es betreten. Du wirst keinen Sterblichen finden, der sich vor den Namenlosen nicht fürchtet.«
Arha erwiderte nichts darauf, aber ihre Augen funkelten. Wiederum hatte Manan etwas gesagt, worüber sie nachdenken mußte. Thar und Kossil waren ihr bislang immer so mächtig, so kalt, so erschreckend erschienen, daß ihr niemals die Vermutung gekommen war, daß sie Angst haben könnten. Aber Manan hatte recht. Die beiden fürchteten sich vor diesen Gewölben, vor diesen Mächten, zu denen Arha gehörte, deren Teil sie war. Sie hatten Angst, diesen finsteren Ort zu betreten, sie wollten nicht verzehrt werden.
Als sie jetzt mit Kossil die Stufen des Kleinhauses hinunterstieg und den Windungen des Pfades folgte, der zum Thronsaal hinaufführte, erinnerte sie sich wieder an die Unterhaltung mit Manan und frohlockte in ihrem Innern. Ganz gleich, wohin sie diese beiden nehmen und was sie ihr zeigen würden, sie, Arha, würde keine Furcht haben. Ihr war der Weg vertraut.
Kossil, die einige Schritte hinter ihr auf dem Pfad folgte, begann: »Wie meiner Herrin bekannt ist, besteht eine ihrer Pflichten darin, gewisse Gefangene zu opfern, Verbrecher aus adligen Häusern, die Hochverrat geübt oder sich gegen den Gottkönig versündigt haben.«
»Oder gegen die Namenlosen«, ergänzte Arha.
»Gewiß. Es wäre unpassend gewesen, wenn die Verzehrte, während sie noch ein Kind war, dieser Pflicht nachgekommen wäre. Aber meine Herrin ist kein Kind mehr. Im Kettenraum befinden sich Gefangene, die der Gottkönig in seiner Güte vor einem Monat aus seiner Stadt Awabad hierhergesandt hat.«
»Ich wußte nicht, daß Gefangene gesandt wurden. Warum wurde mir das nicht berichtet?«
»Gefangene werden nachts gebracht, ganz geheim, wie es das alte Ritual der Gräber vorschreibt. Wenn meine Herrin dem Pfad folgt, der sich an der Mauer entlangwindet, wird sie den geheimen Weg erkennen.«
Arha bog vom Weg ab und ging an der Mauer entlang, die die Grabsteine umschloß, die sich hinter dem Gebäude der Thronhalle befanden. Die Steine der Mauer waren massiv, der kleinste war schwerer als ein Mensch, und die größten waren so groß wie Wagen. Obgleich sie nicht zugehauen waren, sah man, daß sie sorgfältig gefügt und eingepaßt waren. Doch es gab Stellen, wo die Steine abgerutscht waren und in einem unordentlichen Haufen aufeinanderlagen. Dieser Verfall mußte sich über einen unendlich langen
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