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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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»Gehen wir!« Aber im Herzen frohlockte sie, während sie der schweren Gestalt der Priesterin folgte: Endlich! Endlich bekomme ich mein eigenstes Reich zu Gesicht!
    Sie war fünfzehn Jahre alt. Es war nun schon mehr als ein Jahr her, seit man sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen hatte und ihr die Privilegien der Einen Priesterin der Gräber von Atuan übertragen hatte. Von allen Priesterinnen des Kargad-Reiches war sie die höchste; selbst der Gottkönig durfte ihr nichts befehlen. Alle verneigten sich und ließen sich auf ein Knie nieder vor ihr, selbst die strenge That und Kossil. Alle sprachen in gewählten Worten zu ihr. Aber sonst hatte sich nichts geändert. Nichts ereignete sich. Als das Zeremoniell ihrer Weihe vorbei war, flossen die Tage genauso dahin, wie sie bisher dahingeflossen waren. Wolle mußte gesponnen, schwarzes Tuch mußte gewebt werden, Getreide mußte gemahlen und Ritualhandlungen mußten vollzogen werden, jeden Abend wurden die Neun Gesänge gesungen, die Türen mußten mit geweihten Namen bedacht werden, zweimal im Jahr mußten die Steine mit Ziegenblut getränkt werden, und vor dem leeren Thron mußten die Tänze des dunklen Mondes getanzt werden. So war das Jahr verflossen, genau wie die Jahre zuvor verflossen waren, und würde sie so alle kommenden Jahre ihres Lebens verbringen?
    Manchmal war ihre Langeweile so stark, daß sie wie von heimlichem Grauen erfaßt wurde. Es würgte sie in der Kehle. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es sie getrieben, darüber zu reden. Sie mußte einfach darüber reden, sie konnte nicht mehr schweigen, oder sie würde wahnsinnig werden. Sie sprach mit Manan darüber. Der Stolz verbot es ihr, sich den anderen Mädchen anzuvertrauen, und die Vorsicht gebot ihr, den alten Frauen nichts davon zu erzählen, aber bei Manan riskierte sie nichts, er war eine treue alte Seele, ihm konnte sie alles sagen, gleichgültig, was es war. Überraschenderweise hatte er eine Antwort:
    »Weißt du, Kleines«, sagte er, »vor langer Zeit, bevor unsere vier Länder ein Reich wurden, bevor es einen Gottkönig gab, der über uns alle herrscht, gab es eine große Anzahl kleinerer Könige, Prinzen und Häuptlinge. Die stritten ständig untereinander. Und dann kamen sie hierher, um ihre Streitereien zu schlichten. Ja, da ging es anders zu! Sie kamen aus unserem eigenen Land, Atuan, von Karego-At, von Atnini und selbst von Hur-at-Hur; die obersten Herrscher mit ihrem ganzen Hof, den Prinzen und Bediensteten kamen. Und dann wollten sie wissen, was sie tun sollten. Und man begab sich vor den leeren Thron und fragte die Namenlose um Rat. Ja, ja, so geschah es vor langer Zeit! Dann aber kamen die Priesterkönige, und die herrschten erst über ganz Karego-At und bald darauf über ganz Atuan, und jetzt sind schon vier oder fünf Generationen vergangen, seit die Gottkönige über alle vier Länder herrschen und ein Reich daraus geschmiedet haben. Damit hat sich alles geändert. Der Gottkönig kann jetzt alle streitsüchtigen Häuptlinge unterdrücken und alle Streitfragen selbst entscheiden, und da er selbst ein Gott ist, muß er die Namenlosen nicht oft um Rat fragen.«
    Arha war nachdenklich geworden. Hier in der Wüste, unter den ewig gleichen Sternen, verlor die Zeit ihre Bedeutung, das Leben floß unverändert dahin, schon seit unvordenklichen Zeiten. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, daß sich je etwas an diesem Leben ändern, daß das Alte absterben und etwas Neues an seine Stelle treten könnte. Es war nicht einfach, die Dinge in diesem neuen Licht zu betrachten. »Die Macht des Gottkönigs ist viel geringer als die Macht derjenigen, denen ich diene«, sagte sie mit gerunzelter Stirn.
    »Gewiß … gewiß … Das kann man einem Gott aber nicht sagen, mein kleiner Honigkuchen, und auch seiner Priesterin nicht.«
    Und sie fing einen Blick aus seinen kleinen, braunen, zwinkernden Augen auf, und sie mußte an Kossil denken, die Hohepriesterin des Gottkönigs, die sie fürchtete, seit sie an diese Stätte gekommen war, und sie verstand Manans Blick.
    »Aber der Gottkönig und sein Hof vernachlässigen ihre Pflichten gegenüber den Gräbern. Keiner kommt hierher.«
    »Na, er schickt uns Gefangene als Opfer. Das versäumt er nicht. Auch an die Gaben für die Namenlosen denkt er.«
    »Gaben! Sein Tempel wird jedes Jahr frisch gestrichen! Gold, hundert Pfund schwer, steht auf seinem Altar, und in seinen Lampen brennt Rosenöl! Und dann schau dir die Thronhalle an! Das Dach hat

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