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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Frauen inne. Sie gaben dem Kind einen kleinen Stoß.
    Der Thron, der sich oben erhob, war zu beiden Seiten von Schwärze umgeben, Riesennetze der Dunkelheit, die vom Dachgestühl zu fallen schienen. Ob es Vorhänge oder nur Schatten waren, blieb dem Auge verborgen. Der Thron selbst war schwarz, an den Armlehnen und der Rückenlehne schimmerte es schwach von Gold und Edelsteinen. Er war riesig. Ein Mensch hätte darin wie ein Zwerg ausgesehen. Er war nicht nach menschlichen Dimensionen gemessen. Er stand leer. Nichts saß darin außer den Schatten.
    Allein kletterte das Kind vier der sechs Stufen aus rotem Marmor hinauf. Sie waren so breit und hoch, daß es beide Füße auf eine Stufe heben mußte, bevor es die nächste angehen konnte. Auf der mittleren Stufe, unmittelbar vor dem Thron, stand ein einfacher Holzblock, der oben ausgehöhlt war. Das Kind ließ sich auf beide Knie nieder, legte den Kopf in die Höhlung und wandte sich ein wenig zur Seite. Es kniete, ohne sich zu bewegen.
    Eine Gestalt, in weiße Wolle gekleidet und gegürtet, trat plötzlich aus den Schatten rechts vom Thron hervor und schritt die Stufen herab auf das Kind zu. Das Gesicht war von einer weißen Maske bedeckt. In der Hand hielt die Gestalt ein Schwert aus glänzendem Stahl, fünf Fuß lang. Ohne ein Wort zu sprechen und ohne zu zögern, schwang sie das Schwert mit beiden Händen in die Höhe und hielt es über den Hals des kleinen Mädchens. Die Trommeln verstummten.
    Als das Schwert den höchsten Punkt erreicht hatte und für einen Augenblick regungslos verharrte, eilte eine schwarzgekleidete Gestalt von der linken Seite des Thrones die Stufen herab und hielt den Opfernden mit dünnen Armen fest. Die scharfe Schneide des Schwertes blitzte in halber Höhe auf. Die beiden Gestalten standen einen Augenblick lang regungslos, wie Tänzer in der Balance, über dem regungslosen Kind, dessen Hals zwischen den auseinandergefallenen schwarzen Haarsträhnen weiß schimmerte.
    In der Stille eilten beide wieder die Stufen hinauf und verschwanden in der Dunkelheit hinter dem Riesenthron. Eine Priesterin näherte sich und goß Flüssigkeit aus einer Schüssel neben das kniende Kind. Der Fleck sah schwarz aus in der Düsternis des Saales.
    Das Kind richtete sich auf und mühte sich die vier Stufen wieder hinunter. Als es unten angelangt war, zogen ihm die beiden großen Priesterinnen einen schwarzen Umhang mit Kapuze an und drehten es um, damit es die Stufen, den Fleck und den Thron sah.
    »O mögen die Namenlosen das Mädchen annehmen, wahrlich die Eine, geboren ohne Namen. Mögen sie ihr Leben und die Jahre ihres Lebens hinnehmen, bis der Tod sie ereile, der auch ihnen geweiht ist. Möge sie ihnen gefallen. Sie werde verzehrt!«
    Andere Stimmen, schrill und grell wie Trompeten, antworteten: »Sie ist verzehrt! Sie ist verzehrt!«
    Die Kleine blickte mit bang geweiteten Augen unter ihrer Kapuze hervor hinauf zum Thron. Die Edelsteine, die die klauenförmigen Armlehnen und die Rükkenlehne zierten, waren von Staub bedeckt, und die Schnitzereien der Rückenlehne waren mit Spinnweben behangen und von weißgrauen Flecken übertupft, die von Eulenmist herrührten. Die drei obersten, geradewegs zum Thron führenden Stufen, die sich über jenen erhoben, auf der die Kleine kniete, hatte noch nie ein menschlicher Fuß betreten. Sie waren so dick mit Staub bedeckt, daß sie wie Rechtecke aus grauer Erde aussahen, und der rotgeäderte Marmor, der unter der unberührten, unbetretenen Ablagerung ungezählter Jahre lag, blieb völlig verborgen.
    »Sie ist verzehrt! Sie ist verzehrt!«
    Jetzt dröhnte die Trommel von neuem, in schnellerem Takt als zuvor.
    Schweigend setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, vom Thron sich entfernend, dem hellen Viereck des offenen Portales im Osten entgegen. Zu beiden Seiten ragten die mächtigen Säulen wie die Waden riesiger bleicher Beine empor, die sich im Dämmerlicht unter der Decke verloren. Das kleine Mädchen schritt zwischen den Priesterinnen dahin. Schwarzgekleidet wie diese, setzte es tiefernst einen Fuß vor den anderen und schritt über das bereifte Unkraut, über die eiskalten Steinplatten. Als Sonnenstrahlen durch das schadhafte Dach auf seinen Weg fielen, blickte es nicht einmal auf.
    Die Wächter hatten die Portale weit geöffnet. Die schwarze Prozession trat hinaus in das kalte, klare Licht und in den Wind des frühen Morgens. Die Sonne in der riesigen Weite des östlichen Himmels blendete die Augen. Die Berge

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