Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Prolog
» TENAR, KOMM HEIM ! Komm heim!«
Die Dämmerung senkte sich über das tiefe Tal; die Apfelbäume standen am Vorabend ihrer Blüte, hie und da zwischen den beschatteten Zweigen war eine Knospe schon erblüht und schimmerte weiß und rosafarben wie ein ferner Stern. Unter den Obstbäumen, im dichten, jungen, feuchten Gras rannte ein kleines Mädchen aus reiner Freude am Laufen dahin. Es kam, nachdem es den Ruf der Mutter vernommen hatte, nicht gleich auf sie zugelaufen, sondern machte einen weiten Bogen, bevor es sich gegen das Haus wandte. Die Mutter, die unter der Tür der Hütte stand, sah die kleine Gestalt hüpfen und springen wie ein Bündel Distelwolle, das vom Wind über das immer dunkler werdende Gras unter den Bäumen geblasen wird.
An der Ecke der Hütte reinigte der Vater seine Hacke von den daran haftenden Erdschollen und sagte: »Warum hängst du so an dem Kind? Nächsten Monat kommen sie und nehmen es fort. Für immer. Wir könnten es genausogut vergraben und es hinter uns bringen. Was hilft es, sich an eines zu klammern, das man ganz gewißlich verlieren wird? Es nützt uns gar nichts. Wenn sie uns wenigstens etwas dafür gäben, daß sie es uns wegnehmen, aber das tun sie ja auch nicht. Sie nehmen es uns einfach weg – und damit aus.«
Die Mutter erwiderte nichts, sondern sah dem Kind zu, das innegehalten hatte und durch die Zweige der Obstbäume hochblickte. Hinter den hohen Hügeln, über den Bäumen war der Abendstern aufgegangen und leuchtete hell und klar.
»Sie gehört uns nicht mehr, sie hat uns nicht mehr gehört, seit sie hierherkamen und sagten, daß sie Priesterin bei den Gräbern werden muß. Warum siehst du das nicht ein?« Seine Stimme war rauh, Bitternis und Kummer lagen darin. »Du hast vier andere Kinder. Die bleiben dir, dieses hier mußt du hergeben. Deswegen häng dich nicht an sie. Laß sie gehen!«
»Wenn die Zeit kommt, dann werde ich sie gehen lassen«, sagte die Frau. Sie neigte sich hinunter, um das Kind, das auf kleinen, nackten, weißen Füßen durch den Schlamm rannte, in ihren Armen aufzufangen. Als sie sich umwandte, um die Hütte zu betreten, beugte sie den Kopf und küßte das Haar des Kindes, das schwarz war; ihr eigenes Haar, im flackernden Feuerlicht, glänzte hell.
Der Mann stand noch draußen. Seine nackten Füße berührten den kalten Boden, und über ihm verdunkelte sich der klare Frühlingshimmel. Sein Gesicht im Dämmerlicht war voller Schmerz, einem dumpfen, schweren, wütenden Schmerz, den er niemals in Worten würde ausdrücken können. Schließlich zuckte er die Achseln und folgte seiner Frau in den feuererhellten Raum, der mit Kinderstimmen erfüllt war.
Die Verzehrte
DER EINZELNE, HOHE, SCHRILLE TON eines Hornes ertönte und verklang. Die Stille, die folgte, wurde nur vom Tritt vieler Füße unterbrochen, die mit dem gleichmäßigen Takt einer Trommel – im Herzschlagrhythmus – Schritt hielten. Durch Sprünge in der Decke des Thronsaales und durch Löcher zwischen den Säulen, wo ein ganzes Stück Mauerwerk und Kacheln herausgebrochen waren, fielen zaghafte schräge Sonnenstrahlen. Es war eine Stunde nach Sonnenaufgang. Die Luft war ruhig und kalt. Die abgestorbenen Blätter des Unkrautes, das sich durch die Marmorfliesen hochgezwängt hatte, waren vom Reif bedeckt und raschelten, als sie von den langen dunklen Gewändern der Priesterinnen berührt wurden.
Sie bewegten sich in Viererreihen durch die Riesenhalle zwischen den doppelten Reihen der Säulen hindurch. Die Trommel schlug dumpf. Keine Stimme war zu hören, kein Auge blickte auf. Fackeln, von schwarzgekleideten Mädchen getragen, brannten rötlich im Sonnenlicht, heller im dazwischenliegenden Dämmerlicht. Draußen, auf den Stufen, die zu der Thronhalle führten, standen die Männer – Wachposten, Trommler, Trompeter, aber nur Frauen schritten durch die großen Portale, in schwarzen Umhängen, die Kapuze über dem Kopf, und bewegten sich langsam, in Viererreihen, auf den leeren Thron zu.
Zwei große Frauen erschienen, riesenhaft in ihren schwarzen Gewändern, die eine hager und steif, die andere schwer und schwankend, wenn sie die Füße aufsetzte. Zwischen ihnen schritt ein ungefähr sechs Jahre altes Kind. Es trug ein glattes, ärmelloses weißes Gewand. Der Kopf, die Arme und die Beine waren unbedeckt, und es war barfuß. Es sah sehr klein aus. Am Fuß der Stufen, die zum Thron hinaufführten, wo die anderen in dunklen Reihen wartend standen, hielten die beiden großen
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