Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
im Westen und die Fassade der Thronhalle warfen das gelbe Licht zurück. Die anderen Gebäude am Fuße des Hügels lagen noch in violettem Schatten; nur der Tempel der göttlichen Brüder leuchtete, der auf der anderen Seite des Weges auf einer kleinen Erhebung stand: Sein Dach war neu vergoldet und warf das Tageslicht in seiner ganzen Pracht zurück. Der schwarze Zug der Priesterinnen bewegte sich in Viererreihen langsam den Gräberhügel hinunter, und während sie sich vorwärts bewegten, begannen sie leise zu singen. Die Melodie hatte nur drei Noten, und das Wort, das sie ständig wiederholten, war so alt, daß es seine Bedeutung verloren hatte; es war wie der Wegweiser, der noch steht, nachdem der Weg selbst längst verschwunden ist. Ununterbrochen sangen sie das leere Wort. An diesem Tag, an dem die Wiederkunft der Priesterin gefeiert wurde, verstummte das Singen nicht; dieser Tag war erfüllt vom leisen Gesang der Frauenstimmen, von einem unaufhörlichen, gleichförmigen, summenden Geräusch.
Das kleine Mädchen wurde von Zimmer zu Zimmer, von Tempel zu Tempel geführt. An einer bestimmten Stelle wurde ihm Salz auf die Zunge gestreut, an einer anderen wurde sein Haar kurzgeschnitten und mit Öl und gewürztem Essig gewaschen; an einem bestimmten Ort legte es sich mit dem Gesicht nach unten auf einen Block aus schwarzem Marmor hinter einem Altar, während die Stimmen einen schrillen Trauergesang anstimmten. Weder die Kleine noch eine der anderen Priesterinnen aßen, noch tranken sie Wasser den ganzen Tag lang. Als der Abendstern am Himmel aufging, wurde das kleine Mädchen nackt in ein Bett gelegt, zwischen Decken aus Schafspelzen und in einem Raum, in dem es noch nie zuvor geschlafen hatte. Er befand sich in einem Haus, das jahrelang verschlossen gewesen war und erst an diesem hohen Tag geöffnet wurde. Der Raum war klein, aber sehr hoch und hatte keine Fenster. Der Geruch des Todes hing in der Luft, unbeweglich und unheimlich. Die schweigenden Frauen ließen das Kind allein in diesem Gemach.
Das Mädchen lag, ohne sich zu bewegen, wie man es ins Bett gesteckt hatte. Seine Augen waren weit geöffnet. Lange lag es so.
Es sah einen Lichtschein an der hohen Wand zittern. Jemand kam den Gang entlang, ein kleines Licht aus Schilfrohr in der Hand, das er verbarg, so daß es nicht größer als ein Leuchtkäfer war. Heiser flüsterte es: »Psst, bist du da, Tenar?«
Das Kind antwortete nicht.
Ein Kopf erschien unter der Tür, ein seltsamer Kopf, ohne Haare und so glatt und in der gleichen Farbe wie eine geschälte Kartoffel. Auch die Augen waren kartoffelartig, klein und braun. Die Nase verschwand zwischen großen glatten Wangenpolstern, und der Mund war ein Schlitz ohne Lippen. Das Kind starrte in das Gesicht, ohne sich zu regen, seine Augen waren groß und dunkel und bewegten sich nicht.
»He, Tenar, mein kleiner Honigkuchen, da bist du ja!« Die Stimme war so heiser, so hoch wie die einer Frau, aber es war keine Frauenstimme. »Ich sollte ja nicht hier sein. Ich gehöre nicht hierher. Ich sollte auf der Veranda bleiben, ich kehre auch wieder zurück. Aber ich muß doch schauen, wie es meiner kleinen Tenar geht nach diesem langen, anstrengenden Tag. Nun, wie geht es meinem kleinen Honigkuchen?«
Er bewegte sich auf das Mädchen zu, langsam und füllig, und streckte die Hand aus, als wolle er ihm die Haare zurückstreichen.
»Ich bin nicht mehr Tenar«, sagte das Kind und starrte ihn an. Seine Hand hielt inne, er berührte es nicht.
»Nein«, sagte er flüsternd nach einer Weile. »Ich weiß, ich weiß. Jetzt bist du die kleine Verzehrte. Aber ich …«
Das Mädchen schwieg.
»Es war ein anstrengender Tag für ein kleines Mädchen«, sagte der Mann und bewegte sich unschlüssig hin und her, das flackernde kleine Licht in der großen gelben Hand haltend.
»Du solltest nicht in diesem Haus sein, Manan.«
»Nein, nein, ich weiß. Ich sollte nicht in diesem Haus sein. Nun, gute Nacht, Kleines … Gute Nacht.«
Das Kind erwiderte nichts. Manan wandte sich langsam um und ging. Das Licht erstarb an den hohen Wänden der Zelle. Das kleine Mädchen, das keinen Namen mehr hatte außer Arha, die Verzehrte, lag auf dem Rücken und blickte unentwegt in die Dunkelheit.
Die Mauer um die Stätte
ALS SIE ÄLTER WURDE , verlor sie alle Erinnerung an ihre Mutter, doch ihr war nicht bewußt, daß sie die Erinnerung verlor. Sie gehörte hierher an diese Gräberstätte, sie kannte nichts anderes als diese Gräberstätte.
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