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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Sklaven, die das Land für die Stätte bebauten, die Herden hüteten und für Futter sorgten. Keiner, der dort wohnte, gelangte je auf die andere Seite der Mauer; nur an ganz heiligen Festtagen wohnten die Tamboure und Hornisten den Prozessionen der Priesterinnen bei, aber durch die Portale der Tempel traten sie nie. Kein anderer Mann setzte je seinen Fuß auf den inneren Bereich der Stätte. Vor Zeiten wurden Pilger, Könige und Häuptlinge aus den vier Ländern empfangen, die hier sakrale Zeremonien verrichteten. Vor eineinhalb Jahrhunderten war der erste Gottkönig gekommen, um das Ritual seiner eigenen Tempelweihe zu zelebrieren. Doch selbst er durfte die Grabsteine nicht aufsuchen, selbst er mußte außerhalb der Stätte essen und schlafen.
    Die Mauer war leicht zu erklettern. Man mußte sich nur mit den Zehen an den verschiedenen Vorsprüngen und Vertiefungen festhalten. Die Verzehrte und ein Mädchen, das Penthe hieß, saßen eines Nachmittags im späten Frühling auf der Mauer. Beide waren zwölf Jahre alt. Eigentlich sollten sie im Websaal des Großhauses sitzen, einem riesigen, aus Stein gebauten Speicherraum, und dort an den mit schwarzen Kettfäden bespannten großen Webstühlen schwarzwollene Tücher für Priesterinnengewänder weben. Sie waren hinausgeschlüpft, um am Brunnen im Hof Wasser zu trinken, und dann hatte Arha gesagt: »Komm!« Und sie hatte das andere Mädchen den Hügel hinunter, um das Großhaus herum und ungesehen zu der Mauer geführt. Jetzt saßen sie oben auf der Mauer und ließen die nackten Beine auf der anderen Seite hinunterhängen. Sie blickten über die endlose Ebene im Osten und im Norden.
    »Ich sähe gern das Meer wieder«, sagte Penthe.
    »Wozu?« fragte Arha und kaute an dem sauren Stengel einer Milchblume, die sie von der Mauer gepflückt hatte. Das unfruchtbare Land hatte gerade die Blütezeit hinter sich. Die kleinen Blumen der Wüste, die rot, weiß und gelb kurze Zeit nahe am Boden geblüht hatten, waren verwelkt und überließen ihre feder- und schirmförmigen Samen dem Wind, die sich dann geschickt irgendwo festhakten. Unter den Apfelbäumen lagen Berge verwelkter roter und weißer Blüten. Die Zweige aber waren grün, und es war das einzige Grün, das meilenweit um die Stätte herum anzutreffen war. Alles andere, von einem Horizont bis zum anderen, wies die stumpfe ockergelbe Farbe der Wüste auf; nur über den Bergen hing ein silberblauer Ton, der vom blühenden Salbei herrührte.
    »Oh, ich weiß nicht, wozu. Ich sähe nur ganz gern etwas anderes. Hier ist alles so gleich. Nichts geschieht.«
    »Alles was geschieht, nimmt hier seinen Anfang«, sagte Arha.
    »Ich weiß … aber ich sähe trotzdem gern etwas geschehen!«
    Penthe lächelte. Sie war ein sanftes, zufriedenes Mädchen. Sie schwieg, während sie die Sohlen ihrer nackten Füße an dem sonnenwarmen Stein rieb. Schließlich sagte sie: »Weißt du, ich habe am Meer gewohnt, als ich klein war. Unser Dorf lag hinter den Dünen, und manchmal gingen wir hinunter und spielten am Strand. Einmal, daran erinnere ich mich noch ganz deutlich, sahen wir eine ganze Flotte von Schiffen vorbeiziehen. Die Schiffe sahen aus wie Drachen mit roten Flügeln. Manche hatten richtige Hälse mit Drachenköpfen. Sie sind an Atuan vorbeigesegelt, aber es waren keine kargischen Schiffe. Sie kamen aus dem Westen, aus den Innenländern, hat unser Dorfältester behauptet. Alle Leute kamen heruntergelaufen und schauten ihnen nach. Ich glaube, sie hatten Angst, daß die Schiffe landen könnten. Aber sie fuhren nur vorbei, niemand wußte, wohin sie zogen. Vielleicht nach Karego-At, um Krieg zu führen! Aber stell dir vor, die Schiffe kamen von den Inseln der Zauberer, wo alle Leute erdfarben sind und dich in Bann schlagen können, ohne viele Umstände zu machen!«
    »Nicht mich«, brauste Arha auf. »Ich hätte ihnen auch nicht nachgeschaut. Das sind schmutzige, verwerfliche Zauberer. Wie können die es wagen, so nahe an den Heiligen Ländern vorbeizusegeln?«
    »Nun ja, ich nehme an, daß der Gottkönig sie eines Tages besiegen und Sklaven aus ihnen machen wird. Aber ich wollte, ich könnte das Meer wiedersehen. In den kleinen Wattentümpeln gab es winzige Kraken, und wenn man ›Bah!‹ schrie, dann wurden sie ganz weiß … Dort kommt der alte Manan und sucht dich.«
    Arhas Beschützer und Diener watschelte langsam an der inneren Seite der Mauer entlang. Ab und zu hielt er inne, zupfte eine wilde Zwiebel aus dem Boden und steckte sie

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