Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Monat sie lebten. Die konnten natürlich nicht genau sagen, wie alt ihr Kind war. Aber wir haben letzten Endes immer die Wahrheit herausgefunden, wir mußten nur lange genug fragen. Es war manchmal mühsam. Schließlich fanden wir ein kleines Mädchen – in einem Dorf von nicht mehr als zehn Häusern, das an den Obstfeldern westlich von Entat lag. Es war acht Monate alt. So lange waren wir schon unterwegs. Es war in der Nacht geboren, in der die Priesterin verschieden war, und dazu noch zur Stunde ihres Todes. Das Kind sah gut aus, aufrecht saß es auf den Knien seiner Mutter und blickte uns aufmerksam an. Wir hatten uns alle in den einzigen Raum der Hütte gedrängt, wie Fledermäuse in eine Höhle! Der Vater war arm. Er versorgte die Apfelbäume auf den Feldern der Reichen, und außer seinen fünf Kindern und einer Ziege gehörte ihm nichts. Selbst das Haus war nicht sein eigenes. Da standen wir nun zusammengepfercht in dem Raum, und man merkte am Tuscheln der Priesterinnen und an den Blicken, die sie dem Kind zuwarfen, daß sie die Wiedergeborene gefunden zu haben glaubten. Auch die Mutter merkte es. Sie hielt das Kind nur fester in den Armen und sagte kein Wort. Na, und am nächsten Tag kamen wir zurück. Und da schau her! Das kleine Mädchen mit seinen munteren Augen lag in seinem Bettchen auf Stroh und schrie und weinte, und ihr Körper war mit roten Fieberflecken bedeckt, und die Mutter rang die Hände und weinte lauter als das Kind: »O weh! O weh! Mein Kind hat die Hexenfinger!« So nannte sie die Krankheit, die man sonst als die Pocken bezeichnet. In meinem Dorf sagen sie auch Hexenfinger dazu. Aber Kossil, die jetzt Hohepriesterin beim Gottkönig ist, trat an das Bett und hob das Kind in die Höhe. Wir anderen waren alle zurückgewichen, ich auch. Mein Leben gilt mir ja nicht viel, aber wer betritt schon gern ein Haus, in dem die Pocken umgehen? Kossil hob das Kind in die Höhe und sagte: ›Es hat kein Fieber.‹ Und dann spuckte sie sich auf den Finger und rieb an einer roten Stelle herum, bis sie verschwand. Es war nichts als Beerensaft. Die arme, dumme Mutter hatte geglaubt, daß sie uns an der Nase herumführen könne, um ihr Kind zu behalten!« Manan schüttelte sich vor Lachen, sein gelbes Gesicht veränderte sich kaum, aber er hielt sich die Seiten. »Ihr Mann hat sie dann geschlagen, denn er fürchtete den Zorn der Priesterinnen. Und dann sind wir wieder in die Wüste zurückgekehrt, aber jedes Jahr suchte einer von der Stätte das Dorf auf, das zwischen den Feldern voller Apfelbäume lag, um nachzusehen, wie sich das Kind entwickelte. So vergingen fünf Jahre, und dann machten sich Thar und Kossil auf, von den Tempelgarden und den Soldaten im roten Helm begleitet, die vom Gottkönig gesandt wurden, um das Mädchen sicher hierherzubringen. Sie führten das Kind hierher, denn es war wirklich die Priesterin, und die gehört hierher an die Gräberstätte. Und wer war das Kind, nun, Kleines?«
»Ich«, sagte Arha und schaute in die Ferne, als wolle sie etwas erkennen, das nicht mehr da war, etwas, das nicht mehr sichtbar war.
Einmal fragte sie: »Was hat denn die … die Mutter getan, als sie kamen, um das Kind mitzunehmen?«
Manan wußte es nicht, er hatte die Priesterinnen auf dieser letzten Reise nicht begleitet.
Und sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Was nützte es auch, sich daran zu erinnern? Es war vorbei, all das war vorbei. Sie war dort angekommen, wo sie ankommen mußte. So war es vorherbestimmt. Von der ganzen Welt kannte sie nur diesen einen Ort: die Stätte, wo sich die Gräber von Atuan befanden.
Während des ersten Jahres wohnte sie mit den anderen Mädchen, die im Alter zwischen vier und vierzehn waren, in dem großen Schlafsaal. Aber selbst dort wurde Manan von den anderen zehn Wärtern getrennt und dazu bestimmt, nur für sie allein zu sorgen, und ihr kleines Bett wurde in einer Nische aufgestellt, die etwas abseits lag in dem langgezogenen Schlafsaal mit den mächtigen niedrigen Deckenbalken, der ein Teil des Großhauses war, wo die Mädchen kicherten und flüsterten, bevor sie einschliefen, wo sie gähnten und sich gegenseitig die Haare flochten im grauen Licht der Morgendämmerung. Aber nachdem man ihr den Namen weggenommen hatte und sie zu Arha wurde, schlief sie allein in dem Kleinhaus, in dem Bett und in dem Zimmer, das sie bis ans Ende ihrer Tage innehaben würde. Das Haus gehörte ihr allein, es war das Haus der Einen Priesterin, und niemand durfte es ohne ihre
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