Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
müssen heute abend zusammenkommen«, sagte der Erzmagier. »Ich werde zum Formgeber gehen. Und ich werde es Kurremkarmerruk wissen lassen, damit er seine Listen zur Seite legt, seinen Schülern einen Abend freigibt und hier bei uns sein kann, wenn auch nicht körperlich. Benachrichtigst du bitte die andern?«
»Gewiß«, erwiderte der Pförtner lächelnd und wurde unsichtbar, auch der Erzmagier verschwand. Nur der Brunnen redete noch mit sich selbst, heiter und hurtig, ohne Pause, im Sonnenlicht des jungen Frühlings.
Irgendwo westlich vom Großhaus auf Rok, manchmal auch südlich, liegt der Immanente Hain. Auf Karten ist er nicht verzeichnet. Kein Weg führt dorthin und nur diejenigen finden ihn, die den Weg wissen. Selbst Novizen, Städter und Bauern können den Hain sehen, aber immer nur aus der Entfernung; eine Gruppe hoher Bäume, deren grüne Blätter selbst im Frühling golden flimmern. Daraus schlossen sie – die Novizen, Städter und Bauern –, daß der Hain in geheimnisvoller Weise beweglich sei. Doch darin täuschen sie sich, denn der Hain ändert seinen Ort niemals. Seine Wurzeln sind die Wurzeln des Seins. Die Welt um ihn herum ist beweglich.
Ged verließ das Großhaus und schritt über die Felder. Er nahm seinen weißen Umhang ab, denn die Sonne stand im Zenit. Ein Bauer, der am braunen Hang pflügte, hob grüßend die Hand. Ged erwiderte den Gruß. Kleine Vögel hoben sich jubilierend in die Luft. Das Funkenkraut war am Erblühen in den Furchen und entlang des Weges. Hoch am Himmel kreiste ein Falke in weitem Bogen. Ged schaute kurz hinauf und hob wieder grüßend die Hand. Der Vogel schoß pfeilschnell herunter und ließ sich mit gelben Krallen auf dem angebotenen Handgelenk nieder. Es war kein Sperber, sondern ein großer Enderfalke, heimisch auf Rok, dessen Gefieder braun-weiß gemustert war. Er blickte mit einem runden, hellgoldnen Auge von der Seite her auf den Erzmagier, dann klappte er seinen gekrümmten Schnabel zu und blickte Ged von vorne an, mit beiden runden, hellgoldnen Augen. »Furchtlos«, sagte der Erzmagier in der Sprache des Schöpfers.
Der große Vogel hielt sich fest und schlug mit seinen Schwingen. Er blickte unentwegt auf Ged.
»Erhebe dich wieder, Bruder!«
Weit oben am Hügel, unter dem klaren Himmel, stand der Bauer. Er hielt in seiner Arbeit inne. Im vergangenen Herbst hatte er einmal beobachtet, wie ein wilder Falke sich auf das Gelenk des Erzmagiers niederließ, und im nächsten Augenblick war der Erzmagier nicht mehr zu sehen gewesen, und zwei Falken stiegen hoch in den Himmel.
Dieses Mal trennten sie sich: der Vogel schwang sich in die Luft, der Zauberer ging weiter über die schlammigen Felder.
Er erreichte den Pfad, der zum Immanenten Hain führte, einen Pfad, der immer gerade verläuft, gleichgültig, wie Zeit und Welt sich ändern. Ihm folgend gelangte er bald in den Schatten der Bäume.
Die Stämme mancher Bäume waren enorm. Wer sie sah, glaubte nicht mehr, daß der Hain sich von Ort zu Ort bewegte. Sie sahen aus wie Türme, die, grau an Jahren, schon seit undenklichen Zeiten stehen; ihre Wurzeln waren den Wurzeln der Berge gleich. Doch unter den Allerältesten gab es manche, deren Laub spärlich und deren Äste schwach waren. Die Bäume waren nicht unsterblich. Unter den Riesen gab es junge, kräftige Bäume, mit dichtbelaubten, hellgrünen Kronen und Schößlingen, zarten, belaubten Stengeln, nicht größer als ein Kind.
Der Grund unter den Bäumen war weich und federnd, ein dunkler, durch die verwesten Blätter vieler Jahre fruchtbarer Boden. Farne und andere Waldpflanzen gediehen hier, doch nur eine Art von Bäumen wuchs hier, für die es keinen Namen in der hardischen Sprache der Erdsee gab. Die Luft unter den Bäumen war frisch und roch nach Erde; sie rief den Geschmack frischen Quellwassers im Mund hervor.
In einer Lichtung, die Jahre zuvor durch den Sturz eines riesenhaften Baumes entstanden war, traf Ged auf den Meister der Formgebung, der selten diesen Hain verließ. Sein Haar war blond wie Weizen; er war kein Mann aus dem Inselreich. Seitdem der Ring von Erreth-Akbe wieder heil war, unternahmen die Bewohner von Kargad keine Raubzüge mehr. Sie hatten Frieden und gewisse Handelsabkommen mit den Innenländern abgeschlossen, doch war es kein freundlicher Menschenschlag, sie hielten sich fern. Nur hin und wieder, getrieben von Abenteuerlust oder dem Verlangen, die Zauberkunst zu erlernen, kamen junge Krieger oder Kaufmannssöhne nach dem Westen.
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