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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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So hatte es sich auch mit dem Meister der Formgebung zugetragen. An einem regnerischen Morgen – zehn Jahre waren seither verflossen – stand ein schwertgegürteter, junger Wilder mit rotem Federbusch auf dem Helm vor der Tür des Großhauses auf Rok und sprach zu Meister Pförtner in befehlendem, fehlerhaftem Hardisch: »Ich komme, um zu lernen!« Und heute stand er im grüngoldnen Licht unter den Bäumen, ein großer, schlanker Mann, mit hellem, langem Haar und seltsamen grünen Augen: Meister der Formgebung.
    Es war möglich, daß auch er Geds wahren Namen kannte. Doch selbst wenn er ihn wußte, gebraucht hatte er ihn noch nie. Sie begrüßten sich schweigend.
    »Was betrachtest du?« fragte der Erzmagier, und der andere antwortete: »Eine Spinne.«
    Zwischen zwei großen Grashalmen der Lichtung hatte die Spinne ein Netz gesponnen, eine Spirale, die kunstvoll an ihren Stützen befestigt war. Das Sonnenlicht fing sich in den feinen Silberfäden. In der Mitte wartete die Spinne, ein schwarzgrauer Fleck, nicht größer als eine Pupille.
    »Auch sie ist eine Formgeberin«, meinte Ged und schaute auf das zarte Gewebe.
    »Was ist das Böse?« fragte der junge Mann.
    Das runde Netz mit seinem schwarzen Mittelpunkt schien sie beide zu beobachten.
    »Ein Netz, von Menschen gewoben«, antwortete Ged.
    In diesem Wald sang keine Vogelstimme. Es war still und jetzt in der Mittagszeit auch heiß. Um sie herum standen Bäume und lagerten Schatten.
    »Aus Narveduen und Enlad kam uns Kunde: die Botschaft ist die gleiche.«
    »Südlich und südwestlich; nördlich und nordwestlich«, sagte der Formgeber, und seine Augen ruhten auf dem runden Netz.
    »Wir kommen heute abend hier zusammen. Dies hier ist der beste Ort, um Rat zu suchen.«
    »Ich habe keinen Rat.« Der Formgeber blickte Ged fest an, seine grünlichen Augen waren kalt. »Ich habe Angst«, sagte er. »Die Angst ist da; die Angst sitzt an den Wurzeln.«
    »Gewiß«, sagte Ged. »Wir müssen in die tiefsten Quellen schauen, glaube ich. Zu lange erfreuten wir uns des Sonnenlichtes, wärmten uns im Frieden, den der geheilte Ring gebracht hat. Unbedeutende Dinge nur haben wir vollbracht, wir fischten im seichten Wasser. Heute abend müssen wir die Tiefe befragen.« Und er ließ den Formgeber zurück, versunken in der Betrachtung einer Spinne im sonnigen Gras.
    Am Rande des Haines, wo die Zweige der Bäume überhängen und gewöhnlichen Grund beschatten, ließ sich Ged nieder und lehnte seinen Rücken an eine mächtige Wurzel. Sein Stab lag quer auf seinen Knien. Er schloß die Augen, als ob er schliefe, doch sein Geist wanderte über die Felder und Hügel von Rok nach Norden, bis an das meerumwogte, gischtbesprühte Vorgebirge, wo der Einsame Turm stand.
    »Kurremkarmerruk«, sagte er im Geist, und der Meister Namengeber blickte von dem dicken Buch auf, aus dem er seinen Schülern die wahren Namen von Wurzeln, Kräutern, Blüten, Samen und Blättern vorgelesen hatte und erwiderte: »Ich bin hier, mein Gebieter.«
    Dann hörte der große, hagere, alte Mann, dessen weißes Haar unter der schwarzen Kapuze verborgen war, zu, und die Schüler im Turmzimmer blickten von ihren Schreibtafeln auf und warfen sich erstaunte Blicke zu.
    »Ich werde kommen«, sagte Kurremkarmerruk und, sich wieder über das Buch beugend, sprach er: »Das Blütenblatt des Moly hat einen Namen, und zwar heißt es Jebera, und ebenso das Kelchblatt, und zwar heißt es Partonath, und der Stengel, und das Blatt und die Wurzel haben ihre eigenen Namen …«
    Doch Erzmagier Ged, der all die Namen des Moly kannte, rief seinen Geistboten wieder zurück; hielt weiter die Augen geschlossen, streckte die Beine bequem aus und schlief in einem von belebenden Blätterschatten durchbrochenen Sonnenlicht bald ein.

Die Meister auf Rok
    AUF ROK WERDEN DIE KÜNSTE der Hohen Magie gelehrt, und Knaben, denen die Gabe der Zauberei angeboren ist, kommen aus allen Ländern der Erdsee hierher zur Schule. Sie werden mit den verschiedensten Arten der Zauberei vertraut gemacht, studieren Namen, Runen, Formeln und Bannsprüche, lernen, was man tun darf und was man unterlassen muß und die Gründe dafür. Und hier werden sie nach langer Übung, wenn Geist, Verstand und Handfertigkeit Schritt halten, zum Zauberer ernannt und erhalten einen Stab als Zeichen ihrer Macht. Die wahren Zauberer kommen alle aus Rok.
    Da es auf allen Inseln Zauberer und Zauberweiber gibt und die Magie den Menschen so nötig ist wie Brot und so ergötzlich wie

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