Der Erl�ser
sein Gesicht nicht verriet. »Die Schweigepflicht verbietet mir leider, etwas darüber zu sagen.«
Eckhoff kratzte sich mit dem Handschuh am Kinn. »Natürlich. Aber wäre das inzwischen nicht ohnehin verjährt?«
»Das kommt darauf an«, sagte Harry und blickte zum Ufer. »Sollen wir gehen?«
»Es ist wohl besser, wenn wir einzeln gehen. Das Gewicht « Harry schluckte und nickte.
Als er endlich trockenen Fußes am Strand stand, drehte er sich um. Es war windig geworden, und der Schnee fegte übers Eis wieein schwebender Rauchteppich. Es sah aus, als würde Eckhoff dort draußen auf Wolken gehen.
Auf dem Parkplatz hatte sich bereits eine dünne Schicht Eis auf Harrys Auto gelegt. Er setzte sich hinein, startete den Motor und drehte die Heizung voll auf. Warme Luft strömte an kaltes Glas. Während er dasaß und wartete, bis die Scheibe wieder frei war, fiel ihm ein, was Skarre gesagt hatte. Dass Mads Gilstrup Halvorsen angerufen hatte. Er fischte die Visitenkarte heraus, die er noch immer in der Jackentasche hatte, und wählte die Nummer. Keine Antwort. Als er das Handy wieder zurück in die Tasche stecken wollte, klingelte es. An der Nummer konnte er ablesen, dass es das Hotel International war.
»How are you?« , sagte die Frauenstimme in ihrem tadellosen Englisch.
»Geht so«, sagte Harry. »Haben Sie «
»Ja, das habe ich. «
Harry holte tief Luft. »War er es? «
»Ja«, seufzte sie, »er war es. «
»Sind Sie sich sicher? Ich meine, es ist ja nicht so leicht, eine Person zu identifizieren, die nur «
» Harry ? «
»Ja?«
»I’m quite sure . «
Harry nahm an, die Englischlehrerin könnte ihm erklären, warum dieses »quite sure« , das wörtlich genommen ja bloß »ziemlich sicher« bedeutete, in diesem sprachlichen Kontext »vollkommen sicher« meinte.
»Danke«, sagte er und legte auf. Und hoffte inständig, dass sie recht hatte. Denn jetzt begann es.
Und wie.
Als Harry die Scheibenwischer einschaltete und sie die schmelzenden Eisbröckchen nach rechts und links schoben, klingelte das Handy zum zweiten Mal.
»Harry Hole.«
»Hier ist Frau Miholjec. Die Mutter von Sofia. Sie sagten, ich darf mich melden, wenn «
»Ja?«
»Es ist etwas geschehen. Mit Sofia.«
KAPITEL 30
Dienstag, 22. Dezember. Stille
D er kürzeste Tag des Jahres.
So stand es auf der Titelseite der Aftenposten , die vor Harry auf dem Tisch des Wartezimmers lag. Er saß in der Ambulanz in der Storgata. Als sein Blick auf die Wanduhr fiel, erinnerte er sich daran, dass er ja auch selbst wieder über eine Uhr verfügte.
»Herr Hole, er hat jetzt Zeit für Sie«, rief eine Frauenstimme durch die Klappe, an der er zuvor Bescheid gegeben hatte, dass er gerne mit dem Arzt sprechen würde, der vor ein paar Stunden Sofia Miholjec und ihren Vater aufgenommen hatte.
»Die dritte Tür rechts, den Flur runter«, rief die Frau.
Harry stand auf und verließ die stumme, verkommene Gesellschaft, die im Wartezimmer hockte.
Die dritte Tür rechts. Der Zufall hätte Sofia natürlich auch durch eine andere Tür auf der rechten Seite gehen lassen können. Oder durch die dritte Tür links. Aber nein, es musste die dritte Tür rechts sein.
»Hallo, ich habe schon gehört, dass Sie das sind«, sagte Mathias Lund-Helgesen lächelnd und streckte ihm die Hand entgegen. »Womit kann ich Ihnen dieses Mal helfen?«
»Es geht um eine Patientin, die Sie heute Morgen behandelt haben. Sofia Miholjec. «
»Ah ja. Setzen Sie sich, Harry. «
Harry ärgerte sich nicht über den kameradschaftlichen Ton seines Gegenübers, aber es war ein Entgegenkommen, das er nicht annehmen wollte. Nicht weil er zu stolz war, sondern weil das für sie beide nur peinlich werden würde.
»Sofias Mutter hat mich heute Morgen angerufen und mir erzählt,sie sei davon aufgewacht, dass sie Sofia in ihrem Zimmer weinen hörte«, sagte Harry. »Sie ging zu ihr und fand sie blutend und verletzt in ihrem Bett. Sofia hat gesagt, sie sei mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen und auf dem Rückweg auf dem Eis ausgerutscht. Die Mutter hat ihren Mann geweckt, und der hat Sofia dann hierher gebracht.«
»Das kann gut sein«, sagte Mathias. Er hatte sich vorgebeugt und auf die Ellenbogen gestützt, um sein ehrliches Interesse zu zeigen.
»Aber die Mutter ist überzeugt, Sofia lügt«, fuhr Harry fort. »Nachdem ihr Mann mit Sofia weg war, hat sie deren Bett überprüft und dabei festgestellt, dass nicht bloß auf dem Kissen Blut war, sondern auch auf dem Laken.
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