Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
Vom Netzwerk:
Und zwar da unten , wie sie sich ausdrückte.«
    »Hm.« Das Geräusch, das Mathias machte, war weder eine Bestätigung noch eine Verneinung, sondern ein Laut, den Ärzte sich, wie Harry wusste, tatsächlich während des Psychologiestudiums im Therapiepraktikum antrainierten. Eine leichte Hebung der Stimme am Ende der Silbe sollte die Patienten zum Weitersprechen ermuntern. Mathias hatte seine Stimme angehoben.
    »Jetzt hat sich Sofia in ihrem Zimmer eingeschlossen«, sagte Harry. »Sie weint und will kein Wort sagen. Und ihre Mutter ist sicher, dass sie dabei bleibt. Sie hat Sofias Freundinnen angerufen. Keine von ihnen hat Sofia gestern Abend gesehen.«
    »Ich verstehe.« Mathias massierte sich den Nasenrücken zwischen den Augen. »Und jetzt wollen Sie mich bitten, dass ich für Sie einmal von meiner Schweigepflicht absehe?«
    »Nein«, sagte Harry.
    »Nicht?«
    »Nicht für mich. Für sie. Für Sofia und ihre Eltern. Und für die anderen, die er vergewaltigt haben kann oder noch vergewaltigen wird.«
    »Sie fahren ja mächtige Geschütze auf. « Mathias lächelte, doch sein Lächeln erstarb, als es nicht erwidert wurde. Er räusperte sich: »Sie verstehen sicher, dass ich mir da erst ein paar Gedanken machen muss, Harry. «
    »Ist sie heute Nacht vergewaltigt worden oder nicht?« Mathias seufzte. »Harry, die Schweigepflicht ist «»Ich weiß, was die Schweigepflicht ist«, fiel ihm Harry ins Wort. »Ich unterliege ihr nämlich auch. Wenn ich Sie bitte, in diesem Fall davon abzusehen, dann nicht, weil ich das Prinzip nicht ernst nehme, sondern weil ich in Anbetracht der Schwere des Verbrechens und der Gefahr der Wiederholung abwäge. Wenn Sie mir vertrauen und meine Einschätzung teilen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Falls nicht, müssen Sie mit Ihrer Entscheidung zurechtkommen, so gut Sie können.«
    Harry fragte sich, wie oft er diesen Spruch in ähnlichen Situationen schon vorgebracht hatte.
    Mathias blinzelte, und sein Mund öffnete sich.
    »Es reicht, wenn Sie nicken oder den Kopf schütteln«, sagte Harry.
    Mathias Lund-Helgesen nickte.
    Es hatte wieder einmal gewirkt.
    »Danke«, sagte Harry und stand auf. »Läuft’s gut mit Rakel und Ihnen und Oleg?«
    Mathias Lund-Helgesen nickte wieder und versuchte zu lächeln. Harry beugte sich vor und legte dem Arzt die Hand auf die Schulter: »Fröhliche Weihnachten, Mathias. «
    Als Harry durch die Tür ging, sah er, dass Mathias Lund-Helgesen mit hängenden Schultern auf seinem Stuhl hockte. Er sah aus, als hätte er eine heftige Ohrfeige bekommen.
     
    *
     
    Das letzte Tageslicht sickerte durch orange Wolken und fiel auf die Fichten und Hausdächer westlich von Norwegens größtem Friedhof. Harry ging am Gedenkstein für die im Krieg gefallenen Jugoslawen vorbei, am Feld der Arbeiterpartei, an den Grabsteinen der Ministerpräsidenten Einar Gerhardsen und Trygve Bratteli, bis er das Feld der Heilsarmee erreichte. Wie erwartet, fand er Sofia an dem jüngsten Grab. Sie hockte im Schnee und hatte sich in eine dicke Daunenjacke gewickelt.
    »Hallo«, sagte Harry und setzte sich neben sie.
    Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den eisigen Wind, der den blauen Dunst wegwischte.
    »Deine Mutter hat mir gesagt, dass du einfach gegangen bist«, sagte Harry. »Und dass du die Blumen mitgenommen hast, die dir dein Vater gekauft hat. Der Rest war nicht schwer zu erraten.«
    Sofia antwortete nicht.
    »Robert war ein guter Freund, nicht wahr? Einer, dem du vertrauen und mit dem du reden konntest. Kein Vergewaltiger.« »Robert hat es getan«, flüsterte sie kraftlos.
    »Und warum liegen deine Blumen dann auf Roberts Grab, Sofia? Ich glaube, dass du von einem ganz anderen vergewaltigt worden bist. Und dass er es heute Nacht wieder getan hat. Und dass er es womöglich auch schon öfter getan hat. «
    »Lasst mich doch in Frieden!«, schrie sie und rappelte sich aus dem Schnee hoch. »Hört ihr!«
    Harry hielt die Zigarette in der einen Hand, mit der anderen packte er Sofias Arm und zog sie grob zurück neben sich in den Schnee.
    »Der , der da liegt, ist tot, Sofia! Aber du lebst. Hörst du? Du lebst! Und wenn du noch länger leben willst, dann müssen wir ihn jetzt kriegen. Wenn nicht, wird er immer so weitermachen. Du warst nicht die Erste und du wirst nicht die Letzte sein. Sieh mich an! Sieh mich an, sage ich! «
    Sofia zuckte zusammen, als er plötzlich laut wurde, und automatisch sah sie ihn an. »Ich weiß, dass du Angst hast, Sofia. Aber

Weitere Kostenlose Bücher