Der Erl�ser
Nachricht von Roberts Tod aufgefasst hatten, ließ es dann aber doch bleiben.
»Lassen Sie uns mit einer Hypothese anfangen«, sagte Harry. »Sie lautet, dass ihr Bruder getötet worden ist, weil er jemand etwas getan hat. Weil er jemand hintergangen hat, sich Geld geliehen hat, jemand beleidigt, bedroht, verletzt hat, was auch immer. Ihr Bruder war ein guter Mensch, sagen alle. Aber das sind alles Charaktereigenschaften, die wir bei einem Mordfall immer zuerst zu hören bekommen, die Menschen betonen gerne zuerst die guten Seiten. Aber die meisten von uns haben auch eine dunkle Seite. Nicht wahr?«
Jon nickte, doch Harry war sich nicht sicher, ob er damit Zustimmung ausdrücken wollte.
»Für uns ist es wichtig, Roberts Schattenseite ein wenig auszuleuchten.«
Jon sah ihn verständnislos an.
Harry räusperte sich: »Fangen wir beim Thema Geld an. Hatte Robert Geldprobleme?«
Jon zuckte mit den Schultern. »Nein. Und ja. Er lebte nicht auf großem Fuß, ich kann mir also kaum vorstellen, dass er allzu viel Schulden gemacht hat, wenn Sie das meinen. Wenn er sich etwas geliehen hat, dann in der Regel von mir, glaube ich. Na ja, was heißt geliehen « Jon lächelte wehmütig.
»Über was für Beträge reden wir da?«
»Keine großen. Abgesehen von diesem Herbst.«
»Wie viel?«
»Äh dreißigtausend.«
»Wofür?«
Jon kratzte sich am Kopf. »Ein Projekt, aber er wollte nicht sagen, was genau, nur dass er dafür ins Ausland musste. Ich würde schon sehen, sagte er. Ja, ich fand das damals schon ein bisschen viel, aber ich wohne billig und fahre kein Auto. Und er konnte sich endlich einmal wirklich für etwas begeistern. Ich war sehr gespannt, worum es sich da handelte, doch dann … ja, dann geschah das hier.«
Harry notierte. »Hm. Wie sieht es mit den dunklen Seiten von Roberts Persönlichkeit aus?«
Harry wartete einfach ab. Blickte auf den Wohnzimmertisch und ließ Jon im Vakuum der Stille sitzen und nachdenken, ließ den Sog auf ihn wirken, der früher oder später etwas zum Vorschein bringen würde: eine Lüge, einen verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln, oder – im besten Fall – die Wahrheit.
»Als Robert jung war, war er ...«, begann Jon, hielt dann aber wieder inne.
Harry sagte nichts, rührte sich nicht.
»Ihm fehlten … gewisse Hemmungen.«
Harry nickte, ohne aufzublicken. Ermunterte ihn, ohne das Vakuum aufzuheben.
»Ich hatte immer Angst davor, auf was für Ideen er als Nächstes verfallen würde. Er war so radikal. Und schien manchmal richtiggehend zwei Personen in sich zu tragen. Die eine war die kalte, beherrschte Forschernatur, die sich nur für … wie soll ich sagen … nur für Reaktionen interessierte. Gefühle. Ja, auch das Leiden vielleicht. Solche Dinge.«
»Können Sie mir ein Beispiel geben?«
Jon schluckte.
»Einmal, als ich nach Hause kam, sagte er, er wolle mir etwas im Waschkeller zeigen. Er hatte unsere Katze in ein kleines, leeres Aquarium gesteckt, in dem unser Vater immer seine Guppys gehalten hatte. Ein Gartenschlauch steckte unter der Holzplatte, die er auf das Becken gelegt hatte. Dann drehte er den Hahn voll auf. Es ging so schnell, dass das Wasser fast schon das ganze Aquarium gefüllt hatte, bis ich die Holzplatte zur Seite geschoben und unsere Katze herausgezogen hatte. Robert sagte, er habe nur die Reaktion der Katze beobachten wollen, aber ich habe mich hin und wieder gefragt, ob er es nicht eher auf meine Reaktion abgesehen hatte.«
»Hm. Wenn er so war, ist es doch merkwürdig, dass das niemand erwähnt hat. «
»Diese Seite von Robert kannte kaum jemand. Was wohl zum Teil auch mein Verdienst war. Schon als Kind hatte ich Vater versprechen müssen, auf Robert aufzupassen, damit er nicht eines Tages etwas wirklich Dummes anstellte. Ich hab getan, was ichkonnte. Und Robert war sich, wie gesagt, über seine Handlungen immer im Klaren. Er war gleichermaßen kalt und warm, wenn Sie verstehen, was ich meine. So dass größtenteils nur Menschen, die ihm sehr nahestanden, diese … andere Seite an ihm kannten. Ja, und der ein oder andere Frosch.« Jon lächelte. »Er ließ sie mit Heliumballons in den Himmel steigen. Als Vater ihn erwischte, sagte er nur, ihm täten die Frösche so leid, weil sie nie etwas aus der Vogelperspektive zu sehen bekämen. Und ich « Jon starrte vor sich in die Luft, und Harry sah, dass seine Augen glänzten. »Ich habe gelacht. Vater war wütend, aber ich konnte einfach nicht anders. Nur Robert konnte mich derart zum
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