Der Erl�ser
Lachen bringen.«
»Hm. Hat er diese Eigenschaften irgendwann in der Jugend abgelegt? Ist er da rausgewachsen?«
Jon zuckte mit den Schultern. »Um ganz ehrlich zu sein – ich habe keine Ahnung, was in den letzten Jahren in Robert vorgegangen ist. Seitdem Papa und Mama nach Thailand gezogen sind, haben Robert und ich nicht mehr so viel Kontakt gehabt.«
»Warum?«
»Das passiert doch oft bei Brüdern. Ohne dass es dafür wirklich einen Grund braucht.«
Harry antwortete nicht, er wartete bloß. Auf dem Flur schlug eine Tür zu.
»Es gab da ein paar Frauengeschichten«, sagte Jon.
Das entfernte Heulen eines Krankenwagens. Ein Aufzug summte metallisch. Jon hielt die Luft an, und dann sagte er mit einem Seufzen: »Junge Dinger.«
»Wie jung?«
»Das weiß ich nicht. Aber wenn Robert die Wahrheit gesagt hat, waren sie wohl sehr jung.«
»Warum sollte er nicht die Wahrheit gesagt haben?«
»Wie ich schon sagte – ich glaube, er hatte seine Freude daran, meine Reaktionen zu studieren.«
Harry stand auf und trat ans Fenster. Ein Mann ging durch den Sofienbergpark. Er folgte einem Pfad, der wie ein krummer, brauner Strich aussah, den ein Kind auf ein kreideweißes Blatt Papier gemalt hat. Auf der Nordseite der Kirche lag der kleine, eingezäunte Friedhof der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Ståle Aune,der Psychologe, hatte ihm einmal erzählt, dass der Sofienbergpark vor hundert Jahren noch ein Friedhof gewesen war.
»Hat er diesen Mädchen Gewalt angetan?«, fragte Harry. »Nein!« Jons Ruf hallte zwischen den kahlen Wänden wider. Harry schwieg. Der Mann hatte den Park durchquert und ging nun über die Helgesens gate direkt auf das Haus zu.
»Er hat mir jedenfalls nichts dergleichen erzählt«, fuhr Jon fort. »Und selbst wenn, ich hätte es ihm nicht geglaubt.«
»Kennen Sie welche von den Mädchen, die er getroffen hat?«
»Nein. Er war nie lange mit ihnen zusammen. Es gibt eigentlich nur ein einziges Mädchen, für das er sich wirklich ernsthaft interessiert hat. «
»Ja? «
»Thea Nilsen. Schon als Jugendlicher war er richtiggehend besessen von ihr. «
»Von Ihrer Freundin?«
Jon starrte nachdenklich in seine Kaffeetasse. »Man sollte meinen, ich müsste es schaffen, mich von dem einzigen Mädchen fernzuhalten, das mein Bruder wirklich haben wollte, nicht wahr? Und Gott weiß, dass ich mich wirklich gefragt habe, warum es so kommen musste!«
»Und?«
»Ich weiß nur, dass Thea der fantastischste Mensch ist, den ich jemals getroffen habe.«
Das Summen des Aufzugs verstummte abrupt.
»Wusste Ihr Bruder von Thea und Ihnen?«
»Er hat herausgefunden, dass wir uns ein paarmal getroffen haben. Er hatte wohl einen gewissen Verdacht, aber Thea und ich haben ja versucht, es geheim zu halten.«
Es klopfte an der Tür.
»Das ist Beate, meine Kollegin«, sagte Harry. »Lassen Sie mich kurz aufmachen.«
Er drehte seinen Notizblock um, legte den Stift parallel daneben und ging die wenigen Schritte zur Tür. Es dauerte einen Moment, bis er kapierte, dass die Tür nach innen aufging. Das Gesicht auf der anderen Seite sah ebenso überrascht aus wie sein eigenes, und einen Augenblick lang starrten sie sich nur an. Harry bemerkteeinen süßlichen Parfümduft, als hätte sein Gegenüber gerade erst ein stark duftendes Deodorant verwendet.
»Jon?«, fragte der Mann vorsichtig.
»Natürlich«, sagte Harry. »Entschuldigen Sie, wir haben nur jemand anderen erwartet. Einen kleinen Augenblick.«
Harry ging zurück zum Sofa. »Es ist für Sie.«
Als er sich auf das weiche Sofa fallen ließ, wurde Harry bewusst, dass etwas geschehen war. In diesem Moment, in diesen paar Sekunden. Er überprüfte, ob der Stift noch neben dem Block lag. Unberührt. Aber da war etwas, irgendetwas hatte sein Hirn aufgeschnappt, aber noch nicht richtig eingeordnet.
»Guten Abend?«, hörte er Jon hinter sich sagen. Eine höfliche, reservierte Anrede. In einem fragenden Tonfall. Wie man eine Person begrüßt, die man nicht kennt und von der man nicht weiß, was sie will. Da war es wieder. Da war etwas im Gange, und es war nichts Gutes. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Besucher. Er hatte Jons Vornamen benutzt, als er nach ihm fragte, obwohl Jon ihn offensichtlich nicht kannte.
» What message ? « , fragte Jon.
Die Puzzleteilchen fielen an ihren Platz. Der Hals. Der Mann hatte etwas um den Hals gehabt. Ein Tuch. Mit Krawattenknoten. Harry knallte mit beiden Knien gegen den Wohnzimmertisch, als er aufsprang, und die Kaffeetassen
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