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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesb�
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verdächtig machen, sondern auch erfrieren. Er sah auf die Uhr. Erst in ein paar Stunden würde wiederLeben in die Stadt kommen, dann öffneten die Cafés und Läden, in denen er sich aufwärmen konnte. Bis dahin musste er einen Unterschlupf finden. Ein Versteck, einen Ort, an dem er es warm genug hatte und an dem er ausruhen konnte, bis der Tag anbrach.
    Er ging an einer schmutzig gelben, graffitibesprühten Fassade entlang. Seine Augen blieben an einem aufgemalten Wort hängen. »Westbanks«. Etwas weiter stand ein Mann gebückt vor einem Eingang. Aus der Entfernung sah es so aus, als lehnte er den Kopf gegen die Tür.
    Als er näher kam, sah er, dass der Mann mit dem Finger auf einen Klingelknopf drückte.
    Er blieb stehen und wartete. Das konnte seine Rettung sein.
    Eine Stimme krächzte durch die Gegensprechanlage, und der Mann richtete sich auf, schwankte und brüllte eine wütende Antwort. Die rote, vom Alkohol gezeichnete Haut hing in Falten wie bei einem chinesischen Shar-Pei-Hund von seinem Gesicht. Dann verstummte der Mann abrupt, und das Echo erstarb zwischen den Fassaden der nächtlich stillen Stadt. Es summte leise und schließlich gelang es ihm, seinen Schwerpunkt nach vorne zu verlagern, die Tür aufzudrücken und ins Haus zu schwanken.
    Als die Tür langsam wieder zufiel, reagierte er blitzschnell. Zu schnell. Seine Sohlen rutschten auf dem blanken Eis weg, und er schlug mit der Hand auf die brennend kalte Oberfläche, ehe der Rest seines Körpers auf dem Bürgersteig aufprallte. Er rappelte sich hoch, sah, dass die Tür gleich ins Schloss fallen würde, stürzte nach vorn und konnte gerade noch den Fuß in den Türspalt schieben. Er schlich sich ins Haus, blieb stehen und lauschte. Schlurfende Schritte. Die immer wieder anhielten und dann weiterschlurften. Ein Klopfen. Dann öffnete sich eine Tür, und eine Frau schrie etwas in dieser merkwürdig singenden Sprache. Dann war es mit einem Mal wieder still, als hätte ihr jemand die Kehle durchgeschnitten. Nach ein paar Sekunden hörte er einen leisen, wimmernden Laut, wie von einem Kind nach dem ersten Schreck eines Sturzes. Schließlich knallte dort oben eine Tür. Danach war es still.
    Er ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. In dem Müll, der unter der Treppe lag, fand er ein paar Zeitungen. In Vukovar hattensie sich Zeitungspapier in die Schuhe gestopft, es isolierte und absorbierte die Feuchtigkeit. Es war noch immer so kalt, dass er seinen Atem sehen konnte, aber fürs Erste war er gerettet.
     
    *
     
    Harry saß im Büro hinter der Rezeption des Heims und wartete, den Telefonhörer am Ohr. Er stellte sich die Wohnung vor, in der es jetzt klingelte. Sah Bilder von Freunden, die am Spiegel über dem Telefon klebten. Lächelnd, feiernd, vielleicht das eine oder andere Bild von einer Auslandsreise. Vor allem Freundinnen. Er sah eine einfache, aber nett möblierte Wohnung. Ein paar kluge Sprüche an der Kühlschranktür. Ein Che-Guevara-Plakat auf der Toilette. Oder hatte man das heute nicht mehr?
    »Hallo?«, sagte eine verschlafene Stimme.
    »Ich bin’s noch mal.«
    »Papa?«
    Papa? Harry hielt den Atem an und spürte, dass er rot wurde. »Der Polizist.«
    »Ach so. « Leises Lachen. Leise und tief.
    »Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe, aber wir « »Macht nichts.«
    Es entstand genau die Pause, die Harry hatte vermeiden wollen.
    »Ich bin im Obdachlosenheim«, sagte er. »Wir haben hier versucht, eine verdächtige Person festzunehmen. Der Junge an der Rezeption hat mir gesagt, Sie und Rikard Nilsen hätten diesen Mann hier am Abend abgeliefert.«
    »Diesen armen Kerl ohne Kleider?«
    »Ja.«
    »Was hat er getan?«
    »Wir verdächtigen ihn des Mordes an Robert Karlsen. « »Mein Gott!«
    Harry bemerkte, dass dieser Ausruf aus ihrem Munde ganz anders klang als bei anderen Menschen.
    »Wenn es Ihnen recht ist, schicke ich jemand bei Ihnen vorbei, der mit Ihnen spricht. Vielleicht können Sie inzwischen versuchen, sich zu erinnern, was er gesagt hat. «
    »Ja gut. Aber könnten nicht vielleicht S...«
    Pause.
    »Hallo?«, fragte Harry.
    »Er hat nichts gesagt«, sagte sie. »Genau wie diese Kriegsflüchtlinge. Sie erkennen das an der Art, wie sie sich bewegen. Wie Schlafwandler. Als hätten sie auf Autopilot geschaltet. Als wären sie bereits tot.«
    »Hm. Hat Rikard mit ihm geredet?«
    »Kann sein. Wollen Sie seine Nummer?«
    »Gern.«
    »Einen Augenblick.«
    Sie verschwand. Sie hatte recht. Harry dachte an den Moment, als der

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