Der erschoepfte Mensch
Dyer bereits 1976. »Trotzdem werden von Gesellschaft und Industrie gewisse Ansichten über das körperliche Dasein der Menschen verbreitet. Schämen Sie sich über diese menschlichen Eigenschaften, so heißt es da. Lernen Sie, manche Dinge zu verstecken – am besten, Ihr wirkliches Ich hinter unseren Produkten zu verbergen!« 43
Dann fließt ein Großteil Energie in diese Versteckarbeit und fehlt beim seelischen Wachstum, vor allem aber bei der Abgrenzung.
Der Begriff Abgrenzung wird meist im Sinne des Aufstellens von Barrieren verstanden. Wenn ich in Seminaren die Aufgabe stelle, Grenzen zu visualisieren, tauchen immer Bilder von Zäunen, Mauern, manchmal auch Gräben und undurchdringlichen Wäldern auf, also von unbeweglichen Hindernissen. So wird Abwehrenergie verewigt und damit die Möglichkeit biophilen 44 Wachstums kaum mehr möglich.
Viele Menschen unterdrücken aber ihre biophilen Regungen aus Angst, die »Gnade« ihrer Vorgesetzten zu verlieren, halten dadurch aber Energie zurück – stellen sich gleichsam tot – und erschaffen damit auch kein Vorbild für eine dialogische Form von Abgrenzung. Dabei würde es genügen, sich zu positionieren, etwa in dem Sinne: »Ich finde nicht richtig, was Sie tun!« oder, so wie ich es oft formuliere: »Hierbei dürfen Sie nicht mit meiner Unterstützung rechnen.«
Je mehr Gewalt auf den Gehsteigen zunimmt, desto mehr wird Zivilcourage gefordert (bei der Gewalt in der Nachbarwohnung oder im Büro ist das Thema Protest allerdings noch immer tabu). Dabei sehen die meisten Menschen vor ihrem geistigen Auge Bilder von körperlichem Kampf – tatsächlich liegt es aber vielmehr am Mangel an den biophilen seelischen Zuständen Gewissensstärke – nicht Zorn –, Angstfreiheit – nicht Selbstüberschätzung – und Hilfsbereitschaft – nicht Überheblichkeit –, bei Menschen, die kein anderes Verhaltensmodell kennen als Kampf, Flucht oder Totstellen. Alle drei alternativen Seelenzustände sind verbunden mit einem körperlich wie geistigen Aufrichten und Über-sich-selbst-Hinauswachsen.
Vor etwa zwanzig Jahren durfte ich einem Medienmanager beistehen, der überfallsartig all seiner geliebten Aufgabenbereiche entkleidet worden war, weil er die illegalen Umtriebe seines Vorgesetzten nicht ignoriert und verschwiegen hatte wie die anderen aus der Kollegenschaft. Statt Anerkennung für seine Zivilcourage erntete er Kritik, Spott und Verachtung. Ich sagte ihm damals – und habe diesen Satz zwischenzeitlich vielen meiner Klient/innen mitgegeben: »Richten Sie sich auf – wachsen Sie! Dann treffen Sie die Giftpfeile nicht mehr ins Herz, sondern nur in die Wade!«
Sich aufzurichten und Aufrichtigkeit zu leben bedeutet oft Wagnis. Wenn man das aber weiß und bewusst – was nicht gleichbedeutend ist mit selbstgerecht – auf sich nimmt, hält man zu sich und nicht zu den anderen, ist also »ganz bei sich«, und dies kann Energieverlust verhindern. Es ist der Geist – der Spirit – der Aufrichtigkeit, der einen stärkt und Selbstsicherheit spendet.
Sich aufzurichten und Aufrichtigkeit
zu leben bedeutet oft Wagnis.
GEIST
»Sicherheit als endgültiger Plan ist eine Sache für Leichen«, provoziert Wayne Dyer und erklärt: »Sicherheit heißt, immer zu wissen, was geschehen wird, heißt: keine Spannung, kein Wagnis, keine Herausforderung. Sicherheit bedeutet: kein Wachstum, und kein Wachstum bedeutet Tod.« Und er enttarnt: »Außerdem: Sicherheit ist eine Legende.« Mit Sicherheit meint der Psychotherapeut die »äußeren Garantien«, Besitztümer, aber auch berufliche oder institutionelle Positionen; dem gegenüber bestünde die einzige wirkliche in der »inneren« Sicherheit, den eigenen Fähigkeiten zur Problemlösung zu vertrauen. Dyer erinnert, dass Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen oder schlichtes Pech Besitz vernichten können, aber nicht zugleich die Selbstachtung vernichten müssen. Er schreibt: »Sie können so fest an sich und Ihre innere Stärke glauben, dass Ihnen Besitz oder andere Menschen als bloßes erfreuliches, aber überflüssiges Beiwerk in Ihrem Leben erscheinen.« 45
Was notwendig, nützlich oder überflüssig, vielleicht sogar schädlich ist, wurde früher von den – menschlichen wie auch institutionellen – Erziehungsinstitutionen vorgegeben. Heute werden wir von direkten oder indirekten Werbebotschaften berieselt bis behämmert und sind es dann oft auch.
Was für uns »wirklich« wichtig und wohltuend ist, können wir aber hauptsächlich
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