Der erschoepfte Mensch
von mangelnder Einfühlung zurückgeführt werden können.
Der Psychologe Werner Gross schreibt, dass sich Arbeitssüchtige nichts gönnen können. 54 Das kann ich bestätigen – mit einer Einschränkung: Statt sie zu loben, dass sie sich aufgrund ihres Fleißes eine Pause verdient hätten, werden sie kritisiert, bekommen also wieder keine positive energetische Zuwendung, sondern eine negative, müssen also eigene Energie und auch Zeit, die damit neuerlich bei der Pflichterfüllung fehlt, aufwenden, um sich von dieser »Beschmutzung« zu reinigen – ein Teufelskreis. Dahinter verbirgt sich aber auch eine Art Bestrafung für die Person, die einem zumutet, ihr zuliebe die Aufmerksamkeit von der aktuellen Arbeitsaufgabe ab- und ihr zuzuwenden. »Die Leute sind aus dem Gleichgewicht geraten, und das hat zur Folge, dass sie nur zu oft arbeitsabhängig werden. Sie brauchen die Arbeit, um die Löcher, die in ihrer Persönlichkeit entstanden sind, auszustopfen, und sie brauchen allmählich den Stress, um sich auf Touren zu halten«, weiß Werner Gross 55 , und sie verachten alle, die nicht so arbeiten wie sie. Ich beobachte sogar einen zunehmenden Konkurrenzkampf, wer mehr arbeitet als der bzw. die andere, wobei unter Frauen sogar die weitgehend selbstbestimmbaren Haushaltsund Sorgepflichten hoch aggressiv gegen fremdbestimmte Berufsarbeit aufgerechnet werden. Dahinter verbirgt sich Kampf, wertgeschätzt zu werden – oder das Gegenteil: anderen Wertschätzung zu verweigern. Das kann auch dadurch bewerkstelligt werden, dass man sie auf Distanz hält, vor allem mit Hilfe von hierarchischen Strukturen.
Arbeitssüchtige können mit zwischenmenschlichen Beziehungen nichts anfangen, schreibt Gross, weil es einfacher ist, eine Beziehung zur Arbeit aufzubauen als zu einem Menschen, und sie bei der Arbeit viel mehr Befriedigung fänden. 56 Daher erschienen sie ja auch aktiv und lebenstüchtig, tatsächlich wären sie aber unzufrieden und von innerer Unruhe geplagt. Diese Unruhe entspricht dem Zustand des ungestillten Säuglings, der seine innere Leere in Herz und Magen signalisiert und erst »voll« und »still« wird, wenn sein Mundloch gefüllt ist und warme Flüssigkeit den Verdauungstrakt hinunterrinnt. »Außer diesen beiden Organen«, schreibt Lin Yutang, wenn er über Mund und Magen sinniert, »hat er, der Schöpfer, uns aber auch mit mannigfachen Begierden und Süchten ausgestattet und hat zudem das Loch in unserem Inneren bodenlos gemacht, also dass es ist wie eine Talsenke oder ein Meer, das nie gefüllt werden kann.« 57
DAS LOCH IN DER SEELE
Mir gestand einmal ein Klient, Psychologiestudent, der sich selbst als sexsüchtig entschlüsselt hatte, im Augenblick der Selbsterkenntnis, all sein Hinterherjagen nach Frauen, Eroberungen und dem schnellen Kick könne ja doch nicht sein »Loch in der Seele« füllen. Ich entwickelte daraufhin meine Theorie vom »Kühlschrank-« oder »Eiskastensyndrom«: Man fühlt sich leer, spürt, dass irgendetwas fehlt, weiß aber nicht was, und sucht im Kühlschrank nach irgendetwas, ohne Hunger zu verspüren oder auch nur Appetit, es fällt einem eben nur der Frigidaire als Big Spender ein, weil man die Leere im Magen ortet statt im Herzen – so wie der Sexsüchtige seinen Mangel noch tiefer im Körper ortet. Wenn vorne keine Befriedigung erzielt wird, verschiebt er seinen hungrigen Schlund eben nach unten, manchmal sogar hinten (bei sich oder anderen). Den Kühlschrank ersetzt dann das Rotlichtmilieu, das Pornokino oder der Computer.
Diese Offenheit ist nötig, um die
eigene Schaffenskraft, eine Form der
Kreativität, wieder zu spüren.
Wenn wir daran denken, dass der hungrige Säugling im Akt des Stillens nicht nur die Wärme der Nahrung seinen Verdauungsapparat hinunterfließen spürt, sondern gleichzeitig – hoffentlich! – die Geborgenheit haltender liebevoller Arme, und oft auch in dieser Entspannung seinen Darm entleert, wird verständlich, weshalb diese Erinnerungsspur vielen zum unbewussten Motor ihres Such-, leider oft auch Suchtverhaltens wird. Sie suchen Wärme, also Energie. Ob sie sich die Wärme über Nahrungszufuhr, Alkohol oder die Erweiterung der Blutgefäße über den Adrenalinstoß in Stresssituationen – Sex mitgemeint – holen, ist dabei gleichgültig. Eine warme Badewanne täte es vielleicht auch, ist aber nicht so interessant.
Wärme hilft zu entspannen und damit wieder offener zu werden. Diese Offenheit ist nötig, um die eigene Schaffenskraft, eine Form
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