Der erschoepfte Mensch
intuitiv erkennen – wenn wir uns die Zeit nehmen, uns so weit zu ent-spannen, dass wir den Kern unseres Wesens spüren können, unser »Selbst« im Sinne von C. G. Jung: Das ist das Zentrum, in dem wir unsere »Maske« – das, was wir der Außenwelt präsentieren – abgelegt haben und damit unsere »niederen«, d.h. gesellschaftlich kaum akzeptierten Strebungen und Ziele als eben auch zu uns gehörig erkannt und verständnisvoll angenommen haben. So kommen wir zu unserem Mittel-Punkt, in dem unsere inneren Gegensätze zusammentreffen als ein »sowohl – als auch«. Das ist der geistige Ort, in dem wir »in Balance« kommen und »ganz« werden können, im Ein-Klang mit uns selbst. So können wir unsere Energie aus uns selbst erneuern, weil wir unseren »Schatten« – die ungeliebte dunkle Seite unserer Persönlichkeit – integriert haben; wir stehen quasi auf unserem Schatten, weil direkt unter der großen Lichtquelle über uns, wie auch immer wir sie nennen mögen, Gott oder Urenergie, Offenbarung oder Erleuchtung. Diesen Standort zu finden braucht Zeit und auch Mut.
Wenn dann Angst auftritt – und das ist vor allem die Angst vor Schmerzen, besonders vor dem seelischen Schmerz der Isolation, wenn man aus der sozialen Beziehung zu dem wichtigsten Menschen oder zu der relevanten Gemeinschaft herausfällt – kann sie mit Vertrauen ins Gleichgewicht gebracht werden. Wir wissen ja nie, was die Zukunft bringen wird.
Der chinesische Literaturprofessor Lin Yutang schreibt: »Der Mut zum eigenen Wesen ist etwas unendlich Seltenes. Der griechische Philosoph Demokrit meinte, er werde der Menschheit einen großen Dienst erweisen, wenn er sie von der Last zweier großer Ängste befreie: der Furcht vor Gott und der Furcht vor dem Tode. Damit sind wir aber immer noch nicht von einer weiteren, ebenso verbreiteten Furcht befreit: der Furcht vor unserem Nächsten.« 46 Lin Yutang weiß aber auch: »Die ideale Voraussetzung zum Genuss des Lebens bildet eine warme, sorglose und unerschrockene Seele. Mencius 47 bezeichnete als die drei ›reifen Tugenden‹ seines ›großen Mannes‹ die Weisheit, das Mitleiden und den Mut«, aber er schlägt vor, das Wort Mitleiden durch Leidenschaft zu ersetzen. »Haben wir nämlich keine Leidenschaft, so fehlt uns das, wovon wir im Leben eigentlich unseren Antrieb empfangen«, und er schwärmt: »Von einer Seele ohne Leidenschaft sprechen ist genauso unmöglich wie zu behaupten, es gäbe eine Musik ohne Ausdruck.« 48
Unter Leidenschaft verstehe ich die Bereitschaft, heftige Gefühle zu ertragen. Das sehe ich als eine geistige Einstellung.
Körper, Seele und Geist bilden bekanntlich eine sich gegenseitig beeinflussende Einheit von Aspekten: Wir schaffen die Blickwinkel und damit Fragmentierungen, weil wir nicht gewohnt sind, alles zusammen zu betrachten, ohne zu trennen. Dabei wäre genau dies der Weg, nicht nur Gefahren zu sehen, sondern auch die Ressourcen von Prävention und Intervention und damit »heil« zu werden – und zwar nicht nur, nachdem jemand die Frage nach den Alternativen gestellt hat und man nun Schritt für Schritt eine Liste andenkt, sondern synchron, alles auf einmal. Anders gesagt: Die meisten Menschen haben für diese Form ganzheitlicher Wahrnehmung – noch – keine Neurosignatur entwickelt. Das kann man lernen (und in diesem Lernprozess liegt wohl auch die Attraktivität von sogenannten spirituellen oder schamanistischen Ausbildungen).
Die alternative Lernaufgabe besteht aber leider noch immer darin, von anderen abhängig zu werden, d. h. ihnen Teile eigener Energie zu überantworten, und zu bleiben, sodass diese davon profitieren: entweder, weil sie Macht durch Gefolgschaft erzielen wollen, oder Macht durch Finanzgewinn, auf jeden Fall aber Macht durch Ruhm. Dafür sorgen schon die unsäglichen Rankings – eine gleichsam verewigte Strategie des schulischen Wettbewerbs um die Klassenbestposition.
Dass man nach Sicherheit strebt,
wenn man sich unsicher fühlt,
birgt die Gefahr in sich, falschen
Versprechungen zu erliegen.
So wird der Wert eines Menschen in Quantitäten gemessen – in Einkommen, Untergebenen, Namensnennungen – und seine Definition als Ware, ja sogar Luxusgut, vorbereitet. Dadurch verändern sich die Beziehungen – es geht nicht mehr um den Genuss der Einzigartigkeit einer Person, an der man sich erfreuen kann, ohne sie besitzen zu müssen, sondern um deren Besitz, um damit andere zu beeindrucken. Und da Besitz leicht zerstört werden oder
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