Der erschoepfte Mensch
unbegrenzten Möglichkeiten. Die äußeren stehen uns nicht immer, ja sogar selten zur Verfügung. Im Inneren hingegen verfügen wir über unbegrenzten Reichtum – wir müssen nur die Zeitlücke zwischen dem Feuern der Wahrnehmungs- und der Bewegungsnervenzellen zu dehnen lernen (vgl. oben, S. 158). Mit welchem Gefühl, mit welchem Verhalten wir agieren oder reagieren wollen, können wir selbst entscheiden, wenn wir uns die Zeit nehmen, nachzufühlen und nachzudenken. So schöpfen wir aus uns selbst und erschaffen uns selbst. Es ist nur die Angst vor der verinnerlichten strafenden Elterninstanz als übermächtiger Autorität in uns, die uns blockiert. Genau diese kann man mit dem Humor des Schelms überwinden. So warnt ja auch Matthew Fox: »Kreativität wird dämonisch, wenn sie den Götzen am oberen Ende der Leiter dient.« 208 Das bezeichne ich als Fluch des Hofnarren: Er muss kreativ sein, um dem launischen und gefährlichen Herren zu dienen – er darf nicht spielen wie ein Kind, und daher auch nicht »unschuldig«, d. h. ohne böse Gedanken, agieren wie ein Kind.
Zum Mitgefühl gehört also zuallererst, sich selbst auch in den eigenen Gefühlen, den angenehmen wie den unangenehmen, zu bestätigen, und dazu muss man sie erst wahrnehmen. »Tu dir nur nicht selber leid!« und »Komm dir nur nicht gut vor!« lauten übliche Befehle in der Kindheit, und sie besitzen Fluch-Wirkung. Die Münchner »magische Feministin« und Künstlerin Luisa Francia hat ein listig-lustiges Buch betitelt »Spielend scheitern«. Darin beginnt sie ihr Vorwort mit: »Es soll immer noch Frauen geben, die hartnäckig an dem Glauben festhalten, sie seien etwas Besonderes, ja, Genies vielleicht! Sie denken, dass sie die Mauer durchbrechen könnten, die um männliche Machtpositionen errichtet wurde, um diese vor dem Zugriff einiger wild gewordener Frauen zu schützen …« 209 , um später provokant zu folgern: »Du wirst ohnehin von allen Seiten zu hören bekommen, dass es besser wäre, du kämst zur Ruhe. Denn du bist bald soweit, dass man dich einliefern muss …«, und sie setzt paradox fort: »Du könntest auch zur Anpassungs-Therapie gehen. Nach einem Kopfschuss ist das die zweitbeste Möglichkeit: Lass dich an die gesellschaftlichen Bedingungen adaptieren. Wähle eine Therapieform, die geeignet ist, dir den Widerwillen an der Gesellschaft zu nehmen, deine Grenzen klar zu machen, deine Kindheit zu erleuchten und schließlich mit allem Frieden zu schließen. Wenn du Familie hast, geh am besten morgens zur Therapie, da stört’s weder die Schulkinder noch den arbeitenden Mann, wenn du danach ein bisschen heulst und das Gefühl hast, dass du ganz schön in der Scheiße sitzt. Nach dem Mittagessen setzt die Verdauungsmüdigkeit ein, und danach sieht alles schon anders aus …« 210 Genau diese sarkastische Beschreibung passt heute auch auf all die Working People, die spüren, dass sie ihre schöpferischen Energien nicht ausleben dürfen oder dass sie ihnen abgezogen, vielleicht sogar echt gestohlen werden. Wer protestiert, wird schlimmstenfalls als – Diagnose Paranoia querulans – reif für die Psychiatrie, bestenfalls »nur« der Nachsicht bedürftig, weil burn-out erklärt.
Zum Mitgefühl gehört zuallererst,
sich selbst in den eigenen Gefühlen
zu bestätigen.
»Weil du mich | so wie ich bin | nicht aushältst | soll ich es aushalten | nicht so zu sein | wie ich bin?«, lautet ein Gedicht der weitgehend unbekannten Wiener Lyrikerin Traude Zehentner. 211 Es trifft nicht nur auf private Beziehungen zu, sondern auch auf die in der Arbeitswelt.
SCHÖPFERISCHE EXPANSION
»Kreativität ist ein Verb, kein Substantiv«, stellt Matthew Fox als Feststellung in den Raum und erklärt: »Sie ist eine sich stets in Bewegung befindende Kraft, eine Leidenschaft, die Bewegung und Emotion hervorruft. Sie ist ebenso politisch wie zutiefst persönlich.« 212
Wenn Autoritäten – die Eltern, die Lehrkräfte, die Befehlshaber, die Bosse, die Gesellschaft und all diejenigen, denen wir Macht über unser Denken und Fühlen geben – uns zur Anpassung an deren Wünsche und Forderungen bringen wollen, und wir spüren, dass sich unser Körper verspannt, sich irgendwelche Haare aufstellen oder es uns den Magen umdreht (»magerlt«), bedeutet diese Reaktion, dass wir uns verengen und damit unseren Energiefluss abwürgen; wir verhindern, dass sich unser Körper weiter kampfbereit macht. Wird dieser Zustand chronisch, gleiten wir in Melancholie oder
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