Der erschoepfte Mensch
Heilungsbedürftigkeit hervor – nicht aber Vorstellungen von Änderung der Arbeits- oder Zusammenlebensbedingungen. Alain Ehrenberg vermutet dabei, »dass es heute nicht mehr so sehr darum geht, geheilt zu werden, als vielmehr darum, mehr oder weniger ständig betreut und verändert zu werden, und zwar sowohl durch die Pharmazie als auch durch die Therapie und die Gesellschaftspolitik.« 200 Ich ergänze: und durch Kosmetik und neuerdings auch Chirurgie.
»Kein Zweifel: die Kunst ist schuld daran, dass der moderne Mensch so geschlechtsbewusst lebt«, schreibt Lin Yutang. »Erst kam die Kunst, und dann kam die kaufmännische Verwertung des weiblichen Körpers bis hinab zum schwellenden Wadenmuskel und zum gefärbten Zehennagel. Nie habe ich so wie in Amerika den weiblichen Körper Stück für Stück bis aufs letzte kaufmännisch ausgewertet gesehen, und ich kann nur schwer verstehen, dass sich die Amerikanerinnen so widerspruchslos auf diese Ausbeutung ihres Körpers eingelassen haben …«, und er klagt: »Die Künstler sprechen von reiner Schönheit, die Theaterbesucher sprechen von Kunst, nur die Direktoren und Regisseure sprechen von Sex-Appeal, und die Männerwelt im allgemeinen hat ihr Vergnügen bei der Sache.« 201 Für mich bietet diese Passage genau die Herausforderung, zu wählen, mit welchem »Humor« man sich in Bezug zu der beschriebenen Erfahrung setzen will: cholerisch-ärgerlich über die Ausbeutung des weiblichen Körpers, melancholisch-resigniert über die Schlechtigkeit der männlichen »Genießer«, phlegmatisch-gleichgültig über die mangelnde Selbstabgrenzung der möglicherweise unfreiwilligen Selbstvermarkterinnen oder sanguinisch-heiter über ein Phänomen, das man nicht durch emotionalen Energieeinsatz verstärken und damit unterstützen mag.
Ich unterscheide dabei zwischen der spontanen emotionalen energetischen Reaktion und der bedachten Entscheidung, wie konkret man weitere Handlungen setzen will. Da man seit der Entdeckung der Spiegelnervenzellen weiß, dass zwischen dem Feuern der Wahrnehmungsneuronen und dem Feuern der Handlungsneuronen eine minimale Zeitlücke liegt 202 , die man durch Autosuggestion verlängern kann, fällt es auch Menschen ohne lange Meditationserfahrung leichter, sich bewusst zu entscheiden, mit welchem Gefühl – »Humor« – sie reagieren wollen. Oder, in der Sprache der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse, aus welchem Ich-Zustand heraus – aus dem braven, schlimmen, listigen, kreativen etc. Kindheits-Ich, aus dem beschwichtigenden, strafenden, verführerischen, ignoranten etc. Eltern-Ich oder aus dem sachlich-korrekten Erwachsenen-Ich 203 .
Es gibt immer
mehrere Alternativen.
Es gibt immer mehrere Alternativen. Salutogenese – Gesundheitsförderung – basiert auf Suche, Experiment, Auswahl und Verantwortung. Auch wenn die Änderung auslösender Lebensbedingungen schwer oder gar nicht möglich ist – was immer möglich ist, ist die Steuerung des eigenen Energiehaushalts (wozu auch gehört, sich gelegentliche Unachtsamkeiten und Fehler zu verzeihen).
SCHÖPFUNGSKRAFT
»Die Vorstellung, dass Kreativität eine Spiritualität oder Lebensweise für alle Menschen sein könnte, ist in der Epoche, in der die westliche Mystik von der Jakobsleiter 204 beherrscht wurde, ein wohlgehütetes Geheimnis geblieben«, verrät Matthew Fox, wenn er das elitäre Kunstverständnis kritisiert und die »Himmelserhebung« einiger weniger Künstler durch ihre Manager, die deren Werke mit möglichst viel Profit verkaufen wollen. »Die Vorstellung, dass Kreativität ein Besitz und ein Vorrecht aller Menschen sein könnte und nicht nur einer kleinen Elite, hat in letzter Zeit nicht gerade Konjunktur. Ich glaube, dass Gewalt und Destruktivität einer Jakobsleiter-Mystik und einer ihr entsprechenden kulturellen Struktur nirgend deutlicher wurde als in der Kreativität und in den Künsten«, und er zitiert den britischen Bildhauer und Grafiker Eric Gill (1882–1940) mit dem Satz: »Nicht jeder Künstler ist eine besondere Art Mensch, aber jeder Mensch ist eine besondere Art Künstler.« 205
Kunst zeigt sich nicht nur in den Marktsparten der Hochkultur. Kunst beginnt bereits bei der Gestaltung des Alltäglichen. Wer morgens weder sein Frühstück noch ein anderes Ritual zum Tagesbeginn bewusst gestaltet, verzichtet darauf, sich – oder auch anderen – etwas Gutes zu tun und einen Geist der Liebe zum Leben zu entwickeln.
Wenn ich an die letzten Jahre, in denen
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