Der erschoepfte Mensch
ich Mitglied im wissenschaftlichen Fachbeirat des Fonds Gesundes Österreich 206 war, denke, der zur Aufgabe hat, Gesundheitsförderung in der Schule, in den Betrieben und in den Gemeinden zu verbreiten, fällt mir auf, dass viele Projekte zur gesünderen Ernährung gefördert wurden – mehr Obst, mehr Gemüse, mehr Vollwertprodukte, weniger zucker- und fettreiche Industrienahrung –, nicht aber die Zeiten der Nahrungsaufnahme oder die Möglichkeiten, sich den Teller künstlerisch aufzubereiten, unter die Lupe genommen wurde. In einer halben Stunde Mittagspause kann man in einer Betriebskantine – Wegzeiten mitgerechnet – sich nur schnell das Tablett vollschlichten lassen; eine meditativ zelebrierte eigenständige Auswahl ist da eigentlich nur möglich, wenn keine Zeitkontrolle ausgeübt wird.
Auch was die Gestaltung des Arbeitsplatzes betrifft, werden vielfach Kreativität und Selbstbestimmung unterbunden. So erzählte mir einmal eine Betriebsärztin während eines Seminars zur Salutogenese, in dem ich erklärte, wie man sich optische Lichtblicke zur Energiegewinnung schaffen könne, dass es in ihrem Unternehmen streng verboten sei, Fotos seiner Liebsten auf dem Schreibtisch zu platzieren, weil »das störe das Corporate Design«, private Pflanzen oder »liebe Dinge«, sprich Kitsch ebenso. So wird aber der Mitarbeiterschaft nicht nur eine wichtige Form der Regeneration unmöglich gemacht, sondern zusätzlich ihre Selbstbestimmung als Teil von Menschenwürde und ihr Bedürfnis nach Respekt zerstört.
Kunst beginnt bereits
bei der Gestaltung des Alltäglichen.
Feuer und Luft, Wasser und Erde – die vier Grundelemente sind auch in uns verkörpert und bedeuten: Die innere Flamme braucht Atemluft, aber auch Wasser zum allfälligen Löschen und ebenso Erde – die bildet aber auch das Fundament oder die Grenze. In der Schöpfungsgeschichte der Bibel erschafft Gott die Welt, indem er trennt, das bedeutet: abgrenzt. Und er trennt mit der Willensenergie, die dem Wort – dem Logos – inne wohnt.
Wir alle können unser inneres Sein erschaffen, indem wir erkennen, dass wir mehrere Möglichkeiten von Verwirklichungen vor uns liegen haben und entscheiden – das heißt Spreu von Weizen trennen – können, für welche davon wir uns entscheiden wollen (nicht sollen – das wäre wieder Befolgung einer fremdbestimmten Moral und nicht eigenbestimmte Ethik).
SICH SELBST SCHÖPFEN
Die Frage lautet also: Welche Art von Mensch wollen wir sein? Ein erschöpfter, der sich verausgabt hat, oder ein sich ständig selbst regenerierender, der den »Humor« wählt, der seinem, ihrem Ziel und Augenblick angemessen ist?
Alain Finkielkraut beschreibt, wie ein Jahrhundert nach Blaise Pascal die Philosophen der Aufklärung voll Freude den Verstand gegen das Bauchgefühl eintauschten. Er schreibt: »Es sind die Tränen des Körpers, die den Scharfblick des Geistes unverhofft bestätigen und sie unter der Bezeichnung
Gefühl der Menschlichkeit
feiern: ›Diese edle und erhabene Begeisterung‹, schreibt Diderot in der
Enzyklopädie
, ›quält sich mit den Schmerzen der Anderen und dem Bedürfnis, sie zu lindern; sie möchte das Universum durcheilen, um die Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen.‹« Ich verstehe dies als intellektuelle Rechtfertigung der emotionalen Wahrnehmungen (und damit die Balance zwischen der laut C. G. Jung im Westen »überwertigen« kognitiven Denkfunktion und »minderwertigen« Fühlfunktion). Finkielkraut deckt dieses Mitgefühl auf: »Die Vorstellung von der menschlichen Verwandtschaft gibt sich zukünftig in der Form unbegrenzten Beileids zu erkennen, einer empfindsamen Anteilnahme an allen Übeln also, welche die Menschen heimsuchen. Der demokratische Mensch, der nun in Erscheinung tritt, ist nicht nur aufgeklärt, sondern auch empfindsam. Seine Fähigkeit zur Sympathie nimmt in dem Maße zu, wie sein Respekt vor der Hierarchie abnimmt. Je weniger er sich blenden lässt, umso mehr wird er gerührt. Je geringer seine Nachgiebigkeit, um so mehr ist er zu beeindrucken. Je geringer seine Unterwürfigkeit, um so größer seine Barmherzigkeit.« Und: »Gerade weil er so unverschämt lacht, vergießt dieser schalkhafte Figaro, dem jede Form von Götzendienst widerstrebt, seine Tränen so verschwenderisch.« 207
Wir haben immer die Wahl vieler Möglichkeiten auf einer Bandbreite zwischen zwei Extremen; wir leben nicht nur in einer dualen oder polaren Welt, wir leben in einer der
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