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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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herunterkrempelte.
    »Woher kommst du?«
    »New York«, antwortete er verunsichert. Das plötzliche Du passte gar nicht zu ihr.
    »Downtown Manhattan. Steht hier auf meiner Brust, wollen Sie es nachprüfen?«
    Er deutete auf die Erkennungsmarke. Sie irritierte ihn mit ihrer Hartnäckigkeit. Er knöpfte sein Hemd zu.
    »Du bist nicht sehr gesprächig, magst wohl deutsche Frauen nicht?«, fragte sie nach einer Pause und strich dabei die rotblonde Haarsträhne aus der Stirn. »Dabei verhältst du dich wie ein echter Deutscher, bist so mundfaul wie alle hier.«
    »Ich habe schlecht geschlafen.« Martin nahm ihr die Uniformjacke aus der Hand und zog sie wieder an. »So so, wie ein echter Deutscher also.«
    »An dir ist nichts echt.«
    Grinsend deutete Martin mit dem Zeigefinger auf seine Zähne: »Die schon!«
    »Lass deine blöden Witze und halt den Mund!«
    Martin presste die Lippen aufeinander.
    »Tust du immer, was man dir sagt?«, fragte sie gereizt.
    »Warum, mögen Sie American guys nicht?«
    »Ich hasse Lügner«, entgegnete sie scharf. »Man sollte Plünderer erschießen, sobald sie fremdes Eigentum betreten. Sie schießt gut, die Paula, sehr gut. Ich verstehe nicht, warum sie dich davonkommen ließ. Wenn du ihr in deiner Unterhose nicht so lächerlich vorgekommen wärst, hätte sie sicher abgedrückt! Ich hätte es jedenfalls getan.«
    Martin stemmte eine Hand in die Hüfte. Nun verstand er wenigstens, warum sie ihn erschießen wollte: aus lauter Sorge, dass er ihr letztes Huhn hätte stehlen können. Nun, vielleicht nicht zu Unrecht.
    »Aha, o. k. Die Stimme, die aus dem Hintergrund den Befehl zum Töten gibt. Du bist eine echte Deutsche, Erschießungen sind eure Spezialität.« Er warf ihr einen herausfordernden Blick zu. »Aber bei der Unterhose kommt es dir mehr auf den Inhalt an als auf die Verpackung, oder?«
    »Pass auf, was du sagst!« Sie hob drohend die Hand, ließ sie aber sofort wieder sinken.
    »Was bist du?«, fragte Martin. »Eine Anstandsdame?«
    »Es geht dich nichts an, wer oder was ich bin.« Sie zögerte einen Augenblick. »Ich bin eine Zeugin, nichts weiter. Eine Zeugin, die nichts vergisst. Niemals.«
    »Und Bill, der einen kleinen Umweg über eure Farm gemacht hat, ist das auch einer, den du nicht vergessen wirst?«
    »Was geht dich das an?«
    »Nichts. Du hast Recht.« Martin fuhr sich durch die Haare. Langsam verlor er die Lust an diesem Spiel. Ihre Angriffslust ging ihm auf die Nerven.
    Zehn Minuten später passierten sie die ersten zerbombten Häuser der Stadt. Je weiter sie in das verwüstete München eindrangen, desto stärker nahm er den alles durchdringenden Geruch von Steinstaub und Verwesung wahr. Überall aufgerissene Wohnungen, abblätternde Tapeten an Mauerresten. Dazwischen blühende Blumen und kräftiges Grünvon üppig wuchernden Sträuchern. Dann wieder Trümmer. Dazwischen ein unversehrt gebliebenes Haus. Wie das schadhafte Gebiss der Alten in Tutzing. Wieder Trümmer. Auch hier passte nichts mehr zusammen. Als führten die Gleise durch die Kulissen eines abgedrehten Films.
    »Wahnsinn«, flüsterte er benommen.
    Unvermittelt nahm sie seine Hand und drückte sie fest.
    »Ich heiße Anne. Und du?«
    »Martin … Kommst du mit zum Sendlinger Tor? Ich möchte mich dort gern umsehen.«
    »Der Platz liegt auf dem Weg zu mir nach Hause.«
    Er sah sie kurz an. Zunächst wollte sie ihn erschießen, und nun sollte er mit zu ihr. Sie war nicht die Prinzessin seiner Träume, aber faszinierend. Auf was ließ er sich da ein? Letztendlich war es besser, nicht allein zu sein wie in den letzten Wochen. Die Ruinen beunruhigten ihn. Sich zwischen den Trümmerbergen ohne ortskundige Begleitung zurechtzufinden schien unmöglich. Vielleicht konnte sie ihm bei der Suche helfen. Eine Frau an der Seite zu haben war immer von Vorteil, auch bei der Eroberung einer fremden Stadt. Obwohl er nicht glaubte, dass sie mit ihrer Art, die Menschen auszufragen, weiterkämen.
    Nachdenklich starrte Martin von dem in Schrittgeschwindigkeit fahrenden Zug auf drei alte Männer. Sie kauerten in der Nähe der Gleise vor einem toten Pferd. Mit Taschenmessern kratzten sie Fleischfetzen von den Rippen des Kadavers. Zwanzig Meter hinter ihnen spielte eine Gruppe Jungen Fußball. Jubelnd sprang einer hoch und brüllte laut:
    »Tor, Tor!«

4
    »Du traust dich nie!«
    »Tu ich schon.«
    »Der See ist mindestens hundert Meter tief.«
    »Ich habe keine Angst.« Er schleifte den Stab, den sie sich als Angelrute

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