Der erste Sommer
seine Toten!« Mit einem Zug trank sie Martins Glas leer und knallte es auf den Tresen. »Amen.«
November
46
Schon in der Theatinerstraße drängten sich die Menschen. Man musste aufpassen, nicht über einen Komplettamputierten zu stolpern, denn die saßen unmittelbar über dem Boden auf kleinen Brettern mit Rädern und schoben sich mit kurzen Stöcken vorwärts. Immer wieder stießen Andras’ Krücken an die von anderen Männern. Anne und er kämpften sich Meter um Meter über den Marienplatz. Resolut bahnte sie sich den Weg, stieß mit dem Ellbogen eine ebenso forsche Frau im Pelzmantel zur Seite und blaffte sie an:
»Sehen Sie nicht, dass er ein Kriegsinvalider ist?«
Auf der Südseite des Platzes erklommen sie einen Schutthügel mit der besten Aussicht auf den Altar unter der Mariensäule. Den Sockel bedeckten Fichtenzweige. Das Neue Rathaus war mit weißblauen und schwarzgelben Fahnen geschmückt. Bis in die Seitenstraßen drängten sich Schaulustige. Über den Häusern neben dem Rathaus ragten die Türme der Frauenkirche mit schadhaften Kuppeln schemenhaft durch den Hochnebel. Am Fuß des Südturmes war die Marienstatue für einige Jahre aufbewahrt worden. Nun thronte sie endlich wieder mit ihrer Mondsichel, das Szepter in der einen, das Jesuskind in der anderen Hand, auf ihrem angestammten Platz. Ein eisiger Wind fegte über die Zuschauer. Nach einem launischen Oktober war der Herbst nun desto unbarmherziger angebrochen.
Andras wies Anne mit der Hand auf eine amerikanische Flagge hin, die an der Ecke des unversehrten Rathauses hing.
»Sie sind immer da«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Instinktiv dachten beide an Martin, den sie seit dem Kinobesuch Ende September nicht mehr gesehen hatten. Anne fragte sich, warum sie es so weit hatte kommen lassen mit ihm. Nur wegen seiner breiten Schultern und den schmalen Hüften. Das reichte nicht aus, sich in einen Lügner zu verlieben. Es musste mit Leopold zu tun gehabt haben. – Wenn ihr seitdem Amerikaner in Uniformen entgegenkamen, wechselte sie die Straßenseite.
Pünktlich um drei begann der Chor:
» Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn; in Freuden und Leiden ihr Diener ich bin.«
Anne sang aus vollem Herzen mit. Unterdessen setzte sich mit gewichtiger Feierlichkeit der Zug vom Rathaus zur Säule in Bewegung. Hinter den Ministranten schritt der Kardinal in prächtigem Ornat. Ihm folgten der Oberbürgermeister und Mitglieder der neu eingesetzten bayerischen Regierung. Auch ein paar amerikanische Pfarrer waren unter denen, die sich vor dem Altar auf schmalen Holzbänken niederließen.
»Für die Honoratioren gibt es immer Platz, egal vor wessen Altar«, schimpfte ein Mann neben ihnen.
Der Kardinal spendete den Segen nach allen Seiten des Platzes und eröffnete den Gottesdienst.
»Anne, ich muss dir etwas sagen. Ich halte das nicht mehr aus, dich angelogen zu haben.« Andras kratzte sich, statt sich zu bekreuzigen, am Kopf. »Hörst du mir zu?«
Geistesabwesend nickte Anne, den Blick auf die feierlichen Gewänder der Ministranten gerichtet. Einer hatte es ihr besonders angetan. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten,er trug eine mit dem Antlitz der Heiligen Jungfrau bestickte Fahne. Die Miene drückte Entschlossenheit aus und Kraft.
»Man glaubt gar nicht, was so ein Gewand ausmacht. Macht aus Männern Engel.«
»Ich war auch nur ein einfacher Häftling in Allach, kein Zwangsarbeiter. Man hat mich von Dachau aus abkommandiert.« Andras schluckte und sah sie ängstlich an. »Endlich ist es raus. Und eine Porzellanfabrik hatten meine Eltern auch nicht. Nur einen kleinen Laden.«
»Gibt es da einen Unterschied?« Annes Blick war immer noch auf den hübschen Ministranten gerichtet.
Bevor Andras ihr den Unterschied zwischen Häftling und Zwangsarbeiter erklären konnte, begann der Kardinal mit seiner Ansprache. Andras verstummte. Aus den Lautsprechern schnarrte und polterte es:
»Auch für den nordischen Menschen gibt es keine Selbsterlösung.«
»Siehst du, wir müssen nicht selbst richten!«, sagte Anne. »Am Ende kommt immer einer, der das für uns erledigt!« Erleichtert hakte sie sich bei Andras unter und verfolgte weiter die Predigt.
Als die Menge aus vollen Kehlen » Großer Gott wir loben dich« anstimmte, zog sie ihn mit sich fort. Ihr Gesicht drückte feierliche Entschlossenheit aus. In einem weiten Bogen umrundeten sie den Marienplatz und schlenderten die zerstörte Ludwigstraße nach Norden. Bei der Ecke zur Schellingstraße räusperte
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