Der erste Sommer
sich Andras. Anne blieb stehen.
»Hast du mir vorhin zugehört?«, fragte er.
Anne dachte nach, sie hatte vergessen, was er gesagt hatte. Ihr fiel nur der Ministrant ein. »Aber sicher doch«, sagte sie leichthin.
»Ich bin froh, dass du mir vergibst.«
Anne fühlte sich unwohl. »Wenn man in einer Wohnung zusammenlebt, bleibt einem gar nichts anderes übrig.«
»Jeder hat einen schwarzen Fleck am Herzen«, stellte Andras fest.
Sie wusste immer noch nicht, wovon er sprach. Aber sie spürte, dass die Reihe an ihr war. Er erwartete ein Geständnis. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Ohne es eigentlich zu wollen, sprudelte es dennoch aus ihr:
»Damals, als sie den Leopold und die anderen aufgehängt haben, habe ich als Erstes gedacht: Jetzt muss ich aus der Münchner Wohnung raus und zurück aufs Land.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Doch Andras wartete auf die eigentliche Enthüllung. Da platzte es aus Anne heraus: »Und ich habe mich gefreut, dass es auch einmal die trifft, die immer den Kopf hoch getragen haben in Penzberg.« Sie schlug sich die Hände vor den Mund.
»Du wolltest, dass sie umgebracht werden?« Andras’ Stimme klang auf einmal kalt.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Anne zu versichern. Seine Miene verriet, dass er ihr nicht glaubte. »Na ja. Irgendwie schon. Ich wollte Gerechtigkeit.« Eigentlich hatte er ein ganz hübsches Gesicht, dieser Andreas. Seine braunen Haare, die langen Wimpern und die Falten, die sich in seine weiche Haut gegraben hatten.
Schweigend gingen sie weiter. Anne erzählte Andras nicht, dass sie schon seit Anfang April von der Liste gewusst hatte, auf der auch der Name ihres Verlobten stand. Es war ihr nicht wichtig genug erschienen, und als es zu spät war, wollte sie es lieber vergessen. Wer hätte auch gedacht, dass sich so kurz vor dem Untergang die alten Kräfte noch einmal aufbäumen würden? Sie sperrte die Erinnerung in einen Raum des Gedächtnisses, den sie nie mehr betreten würde, bis zu ihrem Tod.
»Kannst du eigentlich Kinder bekommen?«, wechselte sie das Thema.
Andras sah überrascht auf. »Wie meinst du das?«
»Wegen deiner Prothese, vielleicht geht es damit nicht mehr. Mir sind Kinder sehr wichtig. Ich habe nur noch ein paar Jahre Zeit, um eine Familie zu gründen.«
»Bei mir funktioniert noch alles.«
Er wandte sein hochrotes Gesicht ab. Den Blick in die Ferne gerichtet, erklärte Anne:
»Es kommen harte Tage. Gut, dass wir keine Geheimnisse mehr voreinander haben. Das ist die Grundlage für alles. Meine Beziehungen zu Männern standen bisher unter keinem guten Stern. Ab heute bestimme ich selbst darüber.« Ein kalter Windstoß wirbelte durch die Ruinen der Universität und blies alles fort: die Mordnacht Ende April, Leopold, die heißen, staubigen Sonnentage. Die Nächte beim Tanzen in der ehemaligen Metzgerei. Dieser Sommer hatte nicht standgehalten. »Eine Familie möchte ich aufbauen, in der man füreinander sorgt. Wo nicht jeder nur an sich denkt.«
Andras legte ihr die Hand auf die Schulter. Vorsichtig und zart, nicht so kraftvoll und erregend, wie Martin sie im Luftschutzkeller angefasst hatte. Martin … Sie schüttelte sich. Sofort zog Andras seine Hand zurück.
Sie bogen rechts in die Barer Straße ab. Die letzten Meter bis zu Annes Wohnung liefen sie hintereinander her. Andras versuchte vergeblich, mit ihr Schritt zu halten, doch der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich immer mehr.
Als Anne die Wohnungstür öffnete, schlug ihr bittere Kälte entgegen. Sie klopfte die Schuhe am Türvorleger ab und betrat den Flur. Die Tür zu dem Schlafzimmer mit der fehlenden Außenwand war offen. Sie sperrte sie ab und ließ den Schlüssel stecken. Als sie die Küchentür öffnete, fuhr sie zusammen. Im ganzen Raum lagen Kleidungsstücke verstreut, unzähligeKerzen brannten. Die Flasche Schnaps, die Paula mitgebracht hatte, stand fast leer auf dem Küchentisch. Davor saß, dösend auf einem Holzstuhl, ein Mann, nackt bis auf die unförmige Unterhose, mit der sie ihn zum ersten Mal im Juli gesehen hatte. Anne schloss die Tür leise und taumelte in den Flur zurück. Martin war zurück.
47
War wieder Krieg? Alle Kirchturmglocken läuteten wie verrückt. Dabei war es erst Samstag. Verlassen lag die Villa im Novembernebel. Ewald und Katharina waren allein. Vor einer Woche waren Sophie und Ferdinand festgenommen worden. Es hatte Gerüchte gegeben, dass am 9. November alle beschlagnahmten Häuser zum Plündern freigegeben würden. Die
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