Der erste Sommer
Militärpolizei verhaftete sie, als Ferdinand eine riesige Uhr aus einem Grünwalder Anwesen schleppte. Sophie trug ein Ölgemälde mit einer sanft lächelnden Madonna. Das Bild war ihr wertvoll vorgekommen. Ferdinand ließ die Uhr fallen und versuchte wegzurennen, lief aber nur in die Arme eines Uniformierten. Auf der Fahrt zur Polizeiwache verständigten sich Sophie und er flüsternd, nichts von ihrem Zuhause in Nymphenburg preiszugeben, um die kranke Katharina und Ewald nicht zu gefährden.
Ewald hatte drei Tage lang am Hauptbahnhof auf sie gewartet, weil er sich ihr Verschwinden nicht anders erklären konnte, als dass sie zum Hamstern aufs Land gefahren waren. Bei jeder Ankunft eines der hoffnungslos überfüllten Züge war er mit klopfendem Herzen zum Bahnsteig gerannt und hatte nach ihnen Ausschau gehalten. Abends lief er mit hängendem Kopf zurück zu seiner Schwester. Doch alles Wünschenhalf nichts. Ferdinand und Sophie blieben verschwunden, und die Geschwister waren auf sich allein gestellt.
War wieder Krieg? Katharina sah ihren Vater vor sich stehen wie zuletzt beim ersten Fliegerangriff vor – ihr gelang nicht auszurechnen, wie lange das her war. Eine Ewigkeit jedenfalls: Die ganze Familie lauschte damals dicht aneinandergepresst im Keller auf die entfernten Detonationen. Als es nach vier Stunden endlich ruhig war, machte Mutter ihrem Mann vor allen Nachbarn eine Eifersuchtsszene. Jede seiner jüngeren Patientinnen verdächtigte sie, ein Verhältnis mit ihm zu haben. Wenn sie hörte, dass eine die Praxis verließ, stand sie hinter der Gardine und murmelte »Die ist es, die muss ich mir merken«. Eine solche Frau machte sich lächerlich. Katharina verstand, warum Vater ihre Mutter nur betrunken ertrug. Deshalb billigte sie auch, dass er sich nach Berlin davongemacht hatte.
Katharina fasste unter der Decke nach ihrem Handgelenk. Erstaunt stellte sie fest, dass sie keinen Puls mehr fand. Keinen Puls und keinen Vater. Das passte. Zu ihren Füßen saß ihr Bruder, zu weit weg und viel zu klein, um ihr zu helfen. Katharina hatte sich immer eine Schwester gewünscht, mit der sie richtig hätte reden können, über alles, über Mutter und Vater, wenn er trank und sie schlug. Und auch über Ferdinand, den Verräter, der sie sitzengelassen hatte. Selbst ihr Buch war von Sophies Wurstfingern entweiht, nie mehr würde sie es anfassen können. Nur Ewald war ihr geblieben. In den letzten Tagen hatte sie ihn richtig lieb gewonnen, mit seinen Versuchen, sie zum Essen zu nötigen. Und die Melodie auf der Schallplatte, die würde ihr niemand je wegnehmen können. Sie versuchte, sie zu summen, Und es blitzten die Sterne, und es dampfte – aber ihre Kehle war wie verbrannt.
Katharina wollte den Arm heben, um Ewald über sein flachsblondes Haar zu streichen. Er sah hungrig aus und verfroren,er tat ihr so leid. Wie sollte er nur alleine zurechtkommen? Eine ungekannte Klarheit kam über sie. Sie beobachtete, wie er mit zitterndem Zeigefinger dem Sekundenzeiger einer Küchenuhr in seinem Schoß nachfuhr. Fünf Uhr. Gerne hätte sie ihm etwas von der Wärme ihres Körpers abgegeben. Nun war es zu spät, ihm die Wahrheit über ihren Vater zu sagen. Es war gut, es nicht getan zu haben. Er sollte stolz auf sie sein. Jetzt musste sie ihm Lebwohl sagen.
Sie sammelte ihre letzte Kraft und hob den Arm. Eine Handbreit über der Bettdecke fiel er herunter.
Das braune Gras war von Raureif überzogen. Als letzter Baum verlor die alte Buche ihre Blätter. Sie stand ganz hinten im Garten und überschattete im Sommer den Geräteschuppen, in dem sie im Juli eine Nacht verbracht hatten. Ewald hatte darin öfter übernachtet, wenn seine Schwester ihn aus dem Schlafzimmer geworfen hatte, um allein zu sein mit ihrem Grammophon. Ewald trat zum Bett. Den verschrumpelten Apfel hielt er Katharina unter die Nase.
»Riech wenigstens!«
Vergeblich bemühte er sich um einen bestimmenden Tonfall. Ihr Kopf fiel zur Seite. Dabei rutschte die Decke über die Schulter. Ewald zog sie ganz weg. Katharina trug nur eine viel zu weite Männerunterhose. Die roten Flecken zogen sich bis zum Hals hinauf. Auf der Höhe ihrer Hüfte war das Laken braun. Voller Ekel deckte Ewald sie zu.
Er biss in den Apfel. Hätte Sophie nicht die Vorratskammer mit Äpfeln und Gläsern voller gekochter Steckrüben gefüllt, wäre er längst verhungert. Katharina aß seit Tagen nichts mehr. Doch er hatte Hunger, den ganzen Tag. Er sah auf die tickende Küchenuhr. Es war
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