Der erste Tod der Cass McBride
sehen.
»Bèbé, du weißt doch, dass du keine Schere benutzen darfst.«
»Ich möchte keinen Pony mehr haben. Du hast auch keinen Pony.«
»Schau dir die Bescherung an«, schrie Dad. Er nahm mich hoch und hielt mich vor den Spiegel im Flur. Über meiner Stirn standen kurze Büschel ab, während die übrigen Haare wallend über meine Schultern fielen. Was für eine Bescherung.
»Das ist alles deine Schuld, Leatha. Herrgott noch mal, kannst du nicht mal eine Fünfjährige beauf sichtigen!«
Er ließ mich auf den Boden plumpsen, als wäre ich schmutzig. Wischte sich die Hände aneinander ab. »Das Ostereiersuchen in der Firma kannst du verges sen. So kannst du nicht in die Öffentlichkeit.« Er stürmte davon.
Mom legte ihre Arme um mich. »Schon gut, Bèbé. Aber für manche Dinge, wie für eine neue Frisur zum Beispiel, musst du noch ein wenig älter werden.«
Meine Augen suchten das Nichts um mich herum ab. In der Dunkelheit konnte man sich nicht gut verstecken. Im Licht kannst du dich vor dir selbst verstecken, indem du dich auf die anderen konzentrierst, indem du mit deinen Stärken von deinen Schwächen ablenkst oder die Aufmerksamkeit von deinen Schwächen auf jemand anderen lenkst. Darin bin ich Weltmeister.
Im Licht sehen andere ihre eigene geschönte Spiegelung in dir - und das ist die beste Verkaufsmasche überhaupt. Steh im Licht und zeig den anderen, was sie gern wären.
Aber in der Dunkelheit gibt es nur dich. Keine glänzenden spiegelnden Oberflächen, um zu blenden, nur schwarze Löcher, in die du blickst und in denen du erkennst, was du wirklich bist.
David Kirbys Selbstmord war vorprogrammiert. Aber verdammt, wer weiß, was gewesen wäre, wenn mein Zettel ihn nicht zum Äußersten getrieben hätte. Vielleicht hätte er sich gefangen, hätte mit einem Beratungslehrer gesprochen.
Meine Nachricht hatte auf David Kirby gewartet, lag unter dem Tisch bereit, von irgendjemandem gefunden und gelesen zu werden.
Stock und Stein mögen mich verletzen,
aber Worte können mir nie zusetzen.
Was für ein bescheuerter Kindervers war das bloß? Und ... wie sehr kann ein ungesagtes Wort verletzen? Ist das vielleicht wie ein nicht verabreichtes Antibiotikum?
Ist Mom wegen der fiesen Sachen gegangen, die Dad gesagt hat, oder wegen der Dinge, die ich nicht gesagt habe? Wie zum Beispiel: »Ich verstehe, warum du gehen willst, aber bitte ruf mich an.« Oder noch besser wäre es gewesen, selbst anzurufen und zu sagen: »Hey, Mom, ich vermisse dich. Ich liebe dich. Warum kommst du mich nicht besuchen?« All das wurde nicht gesagt.
Hier liegen wir: ich, die Kiste, die Dunkelheit und die Fragen.
BEN
Ein hochgewachsener Mann, Anfang dreißig, der aussah, als wäre sein Körper falsch zusammengesetzt, saß mit gekrümmtem Rücken vor einem Computerbildschirm.
»Hast du was für mich?«, fragte Ben.
Der Mann hob seinen langen, knochigen Zeigefinger, schob sein Gesicht noch dichter vor den Bildschirm und legte seinen Zeigefinger über den Nasenrücken. Dann ließ er sich in den Stuhl zurückfallen und drückte auf eine Taste. »Wird schon ausgedruckt. Ist eine Lösegeldforderung eingegangen?«
»Nein«, erwiderte Ben.
»Da hätte auch niemand viel davon. Ted McBride ist tatsächlich hoch verschuldet. Aber nicht weil er über seine Verhältnisse lebt. McBride ist ein cleverer Geschäftsmann. Er hat sein Haus und sein Unternehmen, einfach alles, bis auf seinen Hund, als Sicherheit beliehen.« Er reckte wieder seinen knochigen Finger in die Luft. »Aber - und hier kommt das entscheidende Aber: Er hat die Kredite aufgenommen, um in eine Wohnsiedlung für Senioren zu investieren. Eine Art Rentnerdorf. Das ist zurzeit ein Riesengeschäft. Du weißt schon: Wohnanlagen für alte Säcke. Na ja, es ist so gedacht, dass junge Säcke investieren, aber die alten Säcke die Häuser kaufen.« Er blickte Ben an und zuckte mit den Schultern. »Er wird mit ziemlicher Sicherheit den großen Reibach machen, aber jetzt im Augenblick ist er knapp bei Kasse.«
»Hat er eine Versicherung auf seine Tochter laufen?«, wollte Ben wissen.
»Ja, aber die Summe ist zu vernachlässigen. Das Geld würde kaum für eine Beerdigung reichen.«
»Würde er durch ihren Tod irgendwie zu Geld kommen?«
»Nein.«
»Also ...«, überlegte Ben.
»Geht es nicht um Geld.«
Ben drehte sich zu Scott um. »Die ersten achtundvierzig Stunden sind fast um und wir haben nichts in der Hand. Erinnerst du dich: Roger hat doch wegen der Sache mit dem
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