Der erste Weltkrieg
erkennen.
Indessen ist Kockas Studie jenseits ihres interessanten methodischen Ansatzes noch aus einem anderen Grunde für den Verlauf der Forschungen zum Ersten Weltkrieg bedeutsam. Sie enthielt zugleich einen Appell, nach der Politik- und Militärgeschichtedes Krieges endlich auch dessen Sozialgeschichte zu schreiben. Freilich war sein Buch noch mehr eine Sozialgeschichte, die dem Strukturalismus jener Zeit verpflichtet war. Doch war es genau dieser Ansatz, der bald durch eine Sozialgeschichte herausgefordert wurde, die die Entwicklung des Weltkriegs «von unten» her betrachten wollte.
Das hieß für den Krieg an den Fronten, dass das Interesse an den Entscheidungen des Feldherrn durch das intensive Studium der Erfahrungen und Einstellungen des «einfachen Soldaten» verdrängt wurde. Soweit es die innere Entwicklung der beteiligten Nationen betraf, rückte jetzt nach der «hohen Politik» der Staatsmänner und Bürokratien der Alltag der Durchschnittsbürger in den Mittelpunkt.
Es ist dabei wichtig, dass die Erweiterung einer Historiographie «von oben» durch jene «von unten» weltweit für so gut wie alle Perioden der Geschichte erfolgte. Auch das Aufkommen der Frauengeschichte und später der Geschlechtergeschichte beeinflusste die neuen Richtungen, die die Weltkriegsforschung einschlug. Hatten sich nämlich die Sozialhistoriker zunächst noch auf die Industrie- und Landarbeiter und deren Reaktionen auf den Kriegsverlauf konzentriert, kam jetzt die Frage nach dem Schicksal der Frauen und ihrer Familien hinzu, und zwar im Angesicht des Massensterbens an der Front und der Totalisierung des Konflikts sowohl hinsichtlich ihrer psychischen Lage als Trauernde als auch ihrer materiellen Situation.
Schließlich verband sich diese Art der Alltagsgeschichte noch mit jenen Historikern, die den Weltkrieg als kulturelles Phänomen betrachteten. Es ist kein Zufall, dass die Pionierleistung auf diesem Gebiet von einem Literaturhistoriker, dem Amerikaner Paul Fussell, erbracht wurde. Ihn interessierte die – wie er es nannte – «moderne» Bewältigung des Krieges in der Literatur, die während und nach dem Kriege entstand. Dagegen setzten andere Kulturhistoriker die These einer sehr viel traditionelleren Art der Trauerarbeit, die durch die europäische Durchschnittsbevölkerung geleistet wurde.
Die hier vorgestellten Schwerpunktverschiebungen in der Historiographie über den Ersten Weltkrieg haben unser Wissenüber die Jahre 1914–1918 erheblich erweitert und bereichert. Es ist dadurch heute möglich, ein sehr viel farbigeres und facettenreicheres Bild der Zeit zu zeichnen. Es gibt Studien zu Themen, an die vor 40 Jahren niemand dachte. In den nun folgenden Kapiteln wird auf alle diese Ansätze Bezug genommen, beginnend mit der großen Politik und den Entscheidungsträgern sowie deren Verantwortung für den Ausbruch und Verlauf des Weltkrieges. In einem weiteren Kapitel wenden wir uns dann den Entwicklungen an der Front und Heimatfront zu, wie sie von den Bevölkerungen Europas erfahren wurden, ehe schließlich die immer zu beachtende Interaktion zwischen «Führung» und «Bevölkerung» in den revolutionären Umwälzungen von 1917 und 1918 zu schildern sein wird.
II. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs
1. Die tieferen Ursachen
Wie alle großen historischen Ereignisse ist der Erste Weltkrieg nicht auf eine Ursache zurückzuführen. Die tieferen Gründe liegen vielmehr in einer Reihe von Entwicklungen, und die Wissenschaft ist sich bis heute nicht einig, welchen von diesen dabei das relativ größere Gewicht gegeben werden sollte. Sicherlich wird man diversen externen Faktoren einen hohen Stellenwert einräumen müssen. Darunter stellt sich wiederum das Bündnissystem der europäischen Großmächte und seine langsame Verfestigung in zwei feindliche Blöcke – den Dreibund (Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien) – und die Triple Entente (Russland, Frankreich, England) als besonders fatal dar.
Dieses Bündnissystem war Anfang der neunziger Jahre auf den Ruinen der Konzeption von Reichskanzler Otto von Bismarck entstanden, die nicht zuletzt darin bestanden hatte, Russland und Frankreich voneinander fern zu halten und auf diese Weise zu verhindern, dass das Deutsche Reich bei einem Konflikt mit einer der zwei Mächte in einen Zweifrontenkrieg gegen beide zusammengeriet. Indessen hatte sich diese Strategie schon Ende der achtziger Jahre nicht mehr aufrechterhalten lassen, ehe 1890 dann der junge Kaiser
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