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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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einer Meinung. Sie sind nicht daran gewöhnt zu differenzieren. Andere Lebenseinstellungen sind für sie falsch.“
    Ich stand immer noch neben dem Tisch. „Die Filme über die Geschichte der Demokratie sagen aus, daß die Gesetze, die das Recht auf Andersartigkeit und das Recht auf Intimsphäre schützen, erst in modernen Zeiten eingeführt wurden. Damit es besser und nicht schlechter wird.“
    „Würdest du bitte zuhören? Daß die Dinge schlechter werden, habe ich nicht gesagt. Ausgewählte sind glücklicher. Noch vor kurzem hing man der Idee an, man müsse alles vermischen. Die Leute sollten zusammenleben und nach außen hin alle gleich erscheinen: Geschäftsleute, Künstler, Puritaner, Tänzerinnen, Schwarze und andere ethnische Gruppen. Leute, von denen jeder andere Ansichten über das hat, was Vergnügen macht. Sie waren einsam, denn sie mußten so tun, als gehörten sie dem Durchschnitt an – und lebten dabei inmitten von Leuten, die sich nicht verstanden.“
    „In unserer UN-Bruderschaft waren wir auch alle durcheinandergemischt“, wandte ich ein. „Wir hatten ’ne gute Freundschaft unter uns. Es war eine prima Bande.“
    Daß ich Widerworte gab, war Ahmed neu. Er blickte einen Moment auf seine Hand, die die Gabel hielt, preßte die Lippen aufeinander und runzelte finster seine schwarzen Brauen. Dann holte er tief Luft und riß sich zusammen. Als er weiterredete, tat er so, als würde er zu einem völlig Fremden sprechen.
    „George, wie würdest du einen schüchternen Burschen nennen, der Interesse an Philosophie und Religion entwickelt, behauptet, Jesus Christus befinde sich in jedem Menschen, und dann sagt, alle Sünder der Welt hätten eine solche Sündenlast aufgetürmt, daß die, die jetzt leben, so schwer daran zu schleppen haben, daß sie neurotisch geworden sind, deswegen nicht mehr umkehren und freundlich sein können und zu einem Leben in der Hölle verdammt sind? Und dann geht er hin und sagt, er würde die armen Schweine dadurch retten, indem er für sie leiden und von ihrer Schuld befreien will. Und er setzt sich hin und meditiert zwei Wochen oder ein Jahr und redet kein Wort. Wenn du ihn dann nach seinem Namen fragst, wird er vielleicht sagen: Jesus Christus. Was habe ich da gerade beschrieben?“
    „Einen der nettesten kleinen Burschen aus der Karmischen Bruderschaft.“ Ich erinnerte mich an ein rundes, bärtiges Gesicht mit kindlichen Augen, einer schüchtern stotternden Stimme und lieben Vibrationen. Er strahlte die Freundlichkeit regelrecht aus, war aber zu schüchtern, um zu sprechen.
    Ahmed schaute zu mir auf. Seine Augen verengten sich, und sein Gesicht wurde härter. „Was würde man mit so einem tun?“ fragte er.
    „Was meinst du damit, mit ihm tun?“ Ich war verwirrt. „Man würde ihm seine Mahlzeiten bringen. Und selbst wenn er die Welt nicht rettet: daß er es versucht, ist anerkennenswert.“
    „Kann man ihn zum Arbeiten bewegen?“
    „Er arbeitet doch.“ Ich stellte fest, daß meine Stimme lauter geworden war. Ich zwang mich zum Hinsetzen und redete leise weiter. „Ich weiß nicht, auf was du hinauswillst. Er gibt doch sein Bestes und tut, was er kann. Er versucht es. Und er ist ihr Bruder. Er gehört zu ihnen.“
    „George, in den vierziger und fünfziger Jahren hätte man einen solchen Burschen als partiell katatonischen Schizophrenen mit religiöser Besessenheit und Größenwahn eingestuft. Die Ärzte hätten ihn in einen fensterlosen Raum gesperrt, wären jeden Tag zu ihm gekommen und hätten ihn in eine Zwangsjacke gesteckt. Sie hätten ihn in ein anderes Zimmer gebracht und ihm Elektroschocks ins Gehirn gegeben. Diese Schocks sind sehr schmerzhaft; sie lassen einen zusammenzucken und können Knochen brechen. Wenn man keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätte, hätte er sich die Zunge abgebissen. Er hätte gebrüllt, uriniert, unter sich gemacht und einen hohen Blutdruck bekommen. Und nachdem man ihn weggebracht und wieder aufgeweckt hätte, hätte er sich zwar nicht mehr an die Behandlung erinnern können, aber das Grauen wäre sofort wiedergekommen, wenn er auch nur in die Nähe der Tür gekommen wäre, die in diesen Raum hineinführt. Die Krankenhausärzte hätten ihm zwanzig Behandlungen dieser Art verpaßt – und pro Behandlung fünf Schocks verabreicht. Und dann hätte man ihn gefragt, ob er immer noch glaube, Jesus Christus zu sein. Sollte er dann immer noch sagen: Ja, ich leide für die Menschheit – wäre alles wieder von vorn losgegangen. Uns

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