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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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Respektabilität fußende Tradition gewesen waren.
    Nur der Hohepriester war sich der Tatsache bewußt, daß sie ein Verbrechen begangen. Nur er fürchtete mich als einen Störenfried, der seine Verhaftung einleiten konnte.
    Als ich die Augen wieder aufmachte, konnte ich den grünen Dschungel am Fuß der Pyramide immer noch sehen. Ich kam mir wie ein Tolteke vor.
    Von unten drang ein Gedanke auf mich ein. Er war so laut wie ein Schrei. „Du stehst auf meiner Hand, du Narr! Ich bin genau hier. Pack mich und bring uns hier raus!“
    Emotionen sind die Antriebskräfte der außersinnlichen Wahrnehmung. Dieser Ausbruch war von der Furcht vor dem Tod und dem Wunsch zu kämpfen ausgelöst worden. Leichen haben keine Emotionen, sie senden auch keine klaren Gedanken aus. Also war hier ein Lebender. Aber als ich sorgfältig unter der ersten Strohpuppenschicht nachsah, fand ich das rote, blutbespritzte Bündel, nach dem ich Ausschau hielt. Seit meiner Landung waren vielleicht acht Sekunden vergangen. Die Priester funkelten mich jetzt an, hoben ihre Messer, beugten sich über den Rand der oberen Plattform und versuchten mich mit den Klingen zu erreichen.
    Ich zerrte die Leiche mit großer Kraftanstrengung aus dem Stapel heraus, schaltete den Ersatz-Düsengürtel auf AUFWÄRTS 4,5 KM / H , kniete mich hin und zog ihr den Harnisch an. Die Priester brüllten in einer Sprache, die mir bekannt vorkam, irgendwelche Befehle, und ihre Helfer versuchten über den schlüpfrigen Puppenstapel hinwegzuklettern, um auf mich loszugehen.
    Die Strohpuppen gerieten unter ihren Füßen in Bewegung und ließen die Angreifer zurückrutschen. Im Norden der Pyramide sah ich den Ambulanzhubschrauber der Rettungsbrigade in der Luft kreisen. Er befand sich knapp außerhalb des Luftraums der Azteken-Kommune. Wenn sie den Toten rechtzeitig an Bord bekamen, konnte man sein Herz durch eine Pumpe ersetzen, ihm eine Vergessensdroge geben, die die letzten acht Stunden auslöschte und ihn ohne Gehirnschaden wieder zum Leben erwecken.
    Ich hob die Leiche hoch, suchte mit den Füßen auf dem durcheinandergeratenden Puppenstapel Halt und warf sie mit aller Kraft auf den Kopter zu. Die Pyramidenseiten waren so steil, daß die Flugbahn des fallenden Körpers an den Steinstufen vorbei verlief und die Leiche beinahe gegen den Rand des Gebäudes geworfen hätte, ehe die Sicherheitsdüsen den Absturz registrierten und sich automatisch einschalteten. Die Gestalt fing sich, trieb in der Leere und stieg dann schnell auf. Die blutrote Strohpuppe jagte in den Himmel hinein, während der Ambulanzhubschrauber sich sofort eng an ihre Fersen heftete.
    Als ich spürte, daß Hände nach meinen Beinen griffen, schaltete ich die Düsen ein. Ich trat mich frei und fing an aufzusteigen.
    Irgendwo aus der Mitte der Strohpuppen kam der leise Ausbruch eines Fluchs und das Gefühl, in den Magen getreten worden zu sein. Er hatte sich schon früher, als ich auf seine Hand getreten war, beschwert. Er mußte gerettet werden.
    Ich erhob mich über die Plattform des Altars und trieb mit einem starken Wind, der mich seitwärts trug. Ganz plötzlich schaltete ich den Gürtel ab und fiel zwischen wütend schreiende Männer mit Krummdolchen auf den Boden. Ich landete geduckt, konnte aber mein Gleichgewicht nicht bewahren. Um mich herum war Geschrei. Zwei linke Hände packten mein rechtes Gelenk und zwei rechte mein linkes; dann zogen sie fest daran. Die zu beiden Seiten stehenden Priester waren Fachleute. Sie verdrehten meine Arme so geschickt, daß sie steif wurden, ich mich nach vorn beugen mußte und meine Rippen beinahe ohne Zuhilfenahme von Messern splitterten. Ich trug zwar immer noch das meinen Oberkörper schützende Kettenhemd, aber dennoch kam der Hohepriester mit erhobener Klinge auf mich zu. Mir fiel die kopflose Puppe wieder ein, die unter mir weggerollt war, als ich den Boden berührt hatte. Das Kettenhemd schützte zwar meinen Brustkorb, aber nicht meine Kehle.
    Schon als kleiner, fetter Bursche hatte ich mich vor wütenden Erwachsenen, die vorhatten, mich zu bestrafen, zu schützen gewußt. Ich stimmte mich auf ihn ein, drehte es so hoch wie möglich, fühlte wie er und sendete zurück.
    Der Hohepriester kam auf mich zu und war ich. Ich ließ alles rein, jedes einzelne seiner Gefühle. Ich sah in seine Augen, stellte mir vor, ich sei er und gerade im Begriff, jemandem das Herz herauszuschneiden. Er sah mich an, stellte sich vor, ich zu sein und daß man ihm das Herz herausschneiden

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