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Der Esper und die Stadt

Der Esper und die Stadt

Titel: Der Esper und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine McLean
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das gebogene Messer in die Luft. Er schaute in die Sonne und hatte den Kopf weit in den Nacken gelegt.
    Der Kommentator zählte die Sekunden. „Zwanzig, neunzehn … Sehen Sie, wie der Schatten über die Brust des Opfers fällt. Wenn die Sonne den Mittelpunkt berührt … Elf, zehn, neun … Die anderen Priester singen und zählen die Sekunden. Zu schade, daß wir sie aufgrund der großen Entfernung nicht hören können.“
    Die Kamera zeigte einen Brustkorb, der aussah, als bestünde er aus Federn, Kornhalmen und grünem Haferstroh.
    Das Bild schwankte, als die ferne Kamera auf ihrem verankerten Ballon von einem Aufwind erfaßt wurde. Die Zusatzeinrichtungen verkleinerten automatisch den visuellen Effekt des Schwankens, indem die Kamera zurückfuhr und ein Fischauge benutzte, durch das wir nicht nur die stufenförmige Pyramide auf dem Dach des zwanzigstöckigen Gebäudes sahen, sondern auch die umliegenden Teile von New York. Die Perspektive war äußerst komisch. Wir sahen riesige, nach außen kippende Gebäude und die künstliche Rundung des Bodens.
    „Drei, zwei, eins – und jetzt ist der Augenblick der Opferung gekommen“, sagte die Stimme des Kommentators von den TV-Schirmen her. Wir sahen die kleinen Gestalten in der Ferne auf der großen Pyramide stehen. Ahmed steuerte unsere Bildschirmkontrollen aus, legte den Telerahmen über den Altar und vergrößerte. Mit einer sichtlichen Gebärde der Anstrengung, bei der beide Arme den Messergriff festhielten, säbelte sich der Hohepriester durch die grünen Korn- und Strohhalme und blieb in etwas hängen, das ihm offenbar Widerstand leistete. Die Priester, die die Arme hielten, packten fest zu. Der Hohepriester machte einen langen, geraden Schnitt und beschrieb dann mit der Klinge einen Kreis. Plötzlich war er rot, hell- und leuchtendrot, im Gesicht, an den Armen und auf der Schürze. Die Farbe eines Schlächters.
    Hier war gerade ein Verbrechen begangen worden. Am liebsten wäre ich zu ihnen hinübergegangen und hätte das Opfer mitgenommen – solange man es noch ins Leben hätte zurückrufen können. Aber die Azteken befanden sich auf eigenem Grund und Boden. Kommunen haben ihre eigene Polizei, um die Ordnung aufrechtzuerhalten – aber sie besteht aus ihren eigenen Mitgliedern. Ohne eingeladen zu sein, durften wir ihr Haus nicht betreten. Und die Azteken luden niemals Fremde zu sich ein.
    Ich stand abrupt auf, blickte durch das Fenster auf der Gegenseite, warf einen langen Blick auf den New Yorker Hafen und sah über den Atlantic Highlands den vertikalen Rauchstreifen eines startenden Raumschiffes. Es war weit von uns entfernt.
    „Sie machen es sehr realistisch“, sagte Ann mit ihrer weichen Stimme. „All dieses künstliche Blut … Und auch das Ding, das sie da hochhalten. Es sieht aus wie ein Herz.“ Und dann verstummte sie, als sei ihr in einem Moment des Verstehens die Luft weggeblieben.
    „Pssst“, machte Ahmed. „Ich zeichne das auf, damit wir es uns noch einmal ansehen können. Wenn die glauben, sie kämen damit durch, haben sie sich aber heftig in den Finger geschnitten.“
    Ich drehte mich um und vermied es, mir die Szene ein zweites Mal anzusehen. Statt dessen versuchte ich zu ergründen, was momentan in Judd Oslos Büro vor sich ging. Der Chef der Rettungsbrigade stritt sich gerade mit einem Polizeichef, dessen Abbild auf einem vor ihm stehenden TV-Schirm sichtbar war. „Wir haben eine Notambulanz mit einem Ärzteteam in der Luft“, sagte er gerade. „Wenn es um einen Menschen geht, der Hilfe und ärztlichen Beistand braucht, haben wir auch das allgemeine Recht, in die Kommune einzudringen. Der Experte sagt außerdem, daß es zu den Traditionen der Azteken gehört, Gefangene zu opfern – speziell gefangene Könige. Und wir vermissen Akbar Hisham, der doch so etwas wie der König der arabischen Enklave ist, stimmt’s? Sie können uns ohne weiteres eine Vollmacht geben.“
    „Nein“, widersprach der andere Mann. „Nein, das können wir nicht. Wir wissen nicht einmal, ob das Opfer ein Außenstehender ist. Die Azteken sind keine echten Indianer, sondern Psychopathen. Das Opfer könnte durchaus ein Freiwilliger gewesen sein. Fragen Sie Ihre ESP-Experten.“
    Ich ging näher an unseren Schirm heran und drückte den Signalgeber. Der Polizeichef sah mich durch den Bildschirm in Judds Büro an.
    „Mein Name ist Sanford; ich bin für den Empathie-Empfang zuständig.“
    „Freut mich, Sie kennenzulernen, Sanford. Wenn ich Ihnen eine Liste

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