Der Facebook-Killer
Linoleumboden. Die Mutter, Kittelschürze und graues Gesicht, stumpfes Haar und müder Blick, Hände ringend und ebenso sprachlos wie der Klotz, den sie einst geliebt hatte, der Mann, mit dem sie mittlerweile nur noch die Angst und der Hass verbanden.
Er schlich sich hinaus aus der Wohnküche, gekrümmt noch vom Schmerz, in sein Zimmer, rollte sich behutsam auf dem Bett zusammen, die Knie angezogen bis an die schmächtige Brust, lautlos bebend vor innerem Schluchzen, das herauswollte und doch nicht konnte. Seine dünnen Finger mit den abgekauten Nägeln tasteten auf den Nachtisch, den alten Nachttisch, ererbt von der Großmutter, und da war sie, auf der rissigen Marmorplatte.
Seine kleine schwarze Bibel, Goldschnitt und Ledereinband, anbetungsabgegriffen. Tastend legten sich seine Finger darum, schlossen sich wie die Krallen eines kleinen, verschreckten Vogels darum.
Bebende Finger öffneten die Heilige Schrift, betasteten zuvor die Goldprägung auf dem vorderen Einband:
GOTTES WORT.
Gott.
Ein strafender Vater auch er.
Der seinen Sohn geopfert hatte. So hatten sie’s im Gottesdienst gelernt, und so stand es in seiner Heiligen Schrift.
Seine Finger nestelten an dem zerfaserten, einst weißen, nun aber schmutziggrauen Lesebändchen. Schlugen die Stelle auf, die er so oft suchte, so oft brauchte. Psalm 119.
Das ist mein Trost in meinem Elend; denn dein Wort erquickt mich
.
Er erwachte von den Stimmen aus der Küche, schräg über den Flur. Hoch, fast falsettartig und doch heiser, seine Mutter:
„Er kann nichts dafür. Lass deinen Zorn doch nicht immer an dem Jungen aus.“
„Dem Jungen, gut gesagt.“ Der rumpelnde Bass des Vaters, inakkurat vom Alkohol, verschliffene Endungen und schwere Zunge. „Bin ja froh, dass du nicht ‚an deinem Sohn‘ gesagt hast.“
„Fang nicht wieder damit an. Ich schwöre dir …“
Das Poltern eines umfallenden Stuhls. Schwere Schritte. Der Junge stand auf, huschte lautlos zur Tür, presste angstvoll sein Ohr gegen das eierschalenfarben lackierte dünne Holz.
Lauschte.
„Schwören willst du? Versündige dich nicht, du … du Metze.“
Der Junge hatte keine Vorstellung davon, was das war, eine Metze, doch er zweifelte keine Sekunde daran, dass es etwas Furchtbares war, kam es doch aus dem Mund seines Vaters.
„Guillaume, bei Gott, an den Gerüchten ist nichts dran, sage ich dir, gar nichts.“
„Bei Gott? Scheinheilige Frömmlerin!“ Der Vater wurde immer lauter. Der Junge konnte die Wut, die in heißen Wellen von ihm ausging, bis in sein angstvolles Nest spüren. Vor seinem geistigen Auge sah er den Vater, groß, schwer, massig und schweißtriefend, stinkend nach Alkohol und Zigaretten, über der Mutter aufragen, die sich nicht zu wehren wusste.
„Rennst jeden Sonntag in deine Scheißkirche, betest mit den Frömmsten, aber für den Kirchendiener die Beine breit machen! Und mir, mir bringst du diesen Bankert heim, und ich muss ihn durchfüttern, den Dreckslümmel, und jeden Tag seh’ ich ihm ins Gesicht und denke: Er ist nicht von mir!“
Der Junge weinte.
„Aber jetzt ist Schluss!“, schrie der Vater. Er hatte sich mittlerweile so in Rage gebrüllt, dass sich seine Stimme überschlug.
„Aber Guillaume, so glaub mir doch!“, wagte die Mutter einzuwerfen.
„Halt den Mund!“ Ein Schrei, so laut, dass die Glasscheiben der billigen Anrichte zitterten. Geschirr zerbrach.
„Nein … Guillaume … nicht! Hör doch auf.“
Scheppern. Klirren. Das Bersten von Glas und von Porzellan. Wimmernd protestierte die Mutter. Doch das stachelte den Rasenden, den außer Kontrolle Geratenen, scheinbar noch an. Immer mehr ging zu Bruch. Dann hörte der Junge ein Geräusch, ein wohlbekanntes Geräusch, den Klang des Furchtbaren. Sein Vater zog den Gürtel aus den Schlaufen.
„Dich werd ich das Herumhuren lehren.“
Dann kamen die Schläge. Dumpf und dennoch knallend. Die hohen, spitzen Schreie seiner Mutter. Mit jedem Knall fuhr ein Zucken durch den mageren Leib des Jungen an der Tür, als würde er selbst geschlagen. Irgendwann war der Gürtel nicht mehr genug. Der Vater nahm die Fäuste, seine fleischigen Schmiedehämmer von Männerfäusten, zu Hilfe, unterstrich Hieb um Hieb, was er zu sagen hatte:
„Du … machst … mir … keine … Schande … mehr. Du … nicht, … Inès. Du … nicht.“
Irgendwann hörte die Mutter auf zu schreien. Scheinbar hörte jeder irgendwann auf damit. Der Junge … der Junge selbst hatte schon lange aufgehört.
Er ging barfuß
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