Der Facebook-Killer
So hieß das in der Welt der Erwachsenen, erinnerte sich der Junge. Ein Knall. Dann noch einer.
Der Riese – sein Vater – zuckte zweimal, und rote Blutrosen erblühten hinten auf seinem dreckigen Unterhemd. Er schlug mit dem Gesicht voran aufs Pflaster.
Ein Schrei – des Riesen? Sein eigener?
Endlich weinte der schmächtige Junge, der auf den Namen Kris Manet hörte.
Irgendwann später schlief er ein, ohne recht zu wissen, wohin ihn die Märchenkrieger gebracht hatten.
Zusammengerollt wie ehedem im Leib seiner verhärmten Mutter.
In seinen Händen, von bleichen, dünnen Fingern umkrallt, die abgegriffene schwarze Bibel.
Als wolle er sie nie mehr loslassen.
12
Einer von uns
11.3.2011, 20:12
Ein Haus in der Nähe des Jardin du Luxembourg
Quartier Latin, Paris
„Mafro, du mieser kleiner Wichser! Du … du Schwanzlutscher!”
Er riss den exklusiven Flachbildfernseher von der Wand und schleuderte ihn zu Boden. „Du bist tot, Mafro … du bist ja sowas von tot!“ Voller Wut trampelte er auf den Funken sprühenden Überresten des teuren technischen Gerätes herum. Zertrat das feixende Gesicht dieses unerträglich selbstgerechten Commissaires. Phantombild, ja? Und die Computerfachleute des DSCS arbeiteten unter Hochdruck daran? So, so. Na, das hätte er ja wohl gewusst. Überhaupt, was sollte der Quatsch – ein Phantombild? Das konnte gar nicht sein. Das hätte ja bedeutet, dass es bei einem seiner Strafgerichte Zeugen gegeben hatte, die ihn beschreiben konnten. Das war vollkommen unmöglich. Er war doch immer so vorsichtig gewesen … Der HERR hätte nie zugelassen, dass es Zeugen gab, die seinen Racheengel überführen konnten.
Den Anruf am Mittag konnten sie auch nicht zurückverfolgt haben. Dafür war er der Polizei technisch einfach zu weit überlegen. Und verraten hatte er sich am Telefon unter Garantie auch nicht. Im Gegenteil: Er hatte in jeder Sekunde die Kontrolle über den Gesprächsverlauf gehabt … und jetzt setzte sich dieses miese kleine Arschloch in die Abendnachrichten und ließ ihn vor den Augen der Welt aussehen wie den letzten Idioten. Wie ein triebgesteuertes, behindertes, unzurechnungsfähiges Kleinkind. Einen Hormonkrüppel. Eine geile Schwanzmarionette. Aber das war alles Lüge … alles Lüge … alles Lüge …
Mafro hatte ja keinen blassen Schimmer, was er mit diesem Interview gerade eben angerichtet hatte. Dieser gottlose Kleingeist von einem Polizisten glaubte tatsächlich, er könne einfach so in Frankreichs meistgesehener abendlicher Nachrichtensendung Lügen über ihn verbreiten? Ungestraft? Sich auf seine Kosten im Rampenlicht suhlen? Na warte! Wer zuletzt lacht, lacht am besten.
Wenn Vince Vega ihn ins Visier nahm, wenn die Rache des HERRN über ihn kam, dann würde Mafro nicht mehr zum Lachen zumute sein. Oh nein.
Nein, dann würde höchstens er lachen. Vince Vega. Der Facebook-Killer. Als Letzter. Und am besten … denn Gott würde Mafro in seine Hand geben. Wie alle Sünder.
Mafro würde dann allenfalls um Gnade flehen …
Aber es gab keine Gnade. Nein. Nicht für Marie-Ange, nicht für ihren Stecher, nicht für all die anderen Metzen – und schon gar nicht für Schnüffler wie diesen Kylian Brousse … oder Mafro.
Er ließ sich keuchend in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte ihn in eine bequemere Sitzposition und zog den Laptop zu sich heran. Ein Klick auf das weiße „f“ im blauen Quadrat mit den abgerundeten Ecken in seiner Lesezeichen-Symbolleiste, und die Facebook-Startseite öffnete sich. Seine Identität musste er nicht verifizieren; Benutzername und Kennwort waren längst in den Cookies seines Airbooks gespeichert.
Da war sie – seine persönliche Facebook-Seite.
Sein Fenster zur Welt.
Sein Evangelium.
John Travolta als Vince Vega grinste ihm lässig aus dem Avatar-Fensterchen entgegen. Die rote Flagge links oben vor dem Weltkugelsymbol zeigte eine 11 … elf Ereignisse in seinem Bekanntenkreis seit seinem letzten Besuch.
Spannend. Aber erst mal war er dran.
Er bewegte den Cursor der Maus in die Status-Eingabezeile.
Dort stand schon sein Online-Name:
VINCE VEGA
Der Facebook-Killer tippte darunter:
… WIRD BLUTIGE RACHE NEHMEN.
Danach saß er eine Weile im Dunklen, starrte die Wand an und überlegte, ob er in den Märchenwald hinausfahren sollte. Immerhin hatte er Zoë. Sollte er sie bluten lassen für die Impertinenz dieses Arschlochs, das sie früher gefickt hatte?
Während er noch darüber grübelte, tauchte oben links in der
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