Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Trampelpfaden des Städtchens bestens vertraut. Dieses sonderbare Mädchen in der offenen Tür würde er gern wiedersehen. Wenn sie in Zürich aussteigt, wird er sie wiedersehen, dessen ist er sich gewiss. Wenn nicht, dann nicht.
Er ist neunzehn Jahre alt, vor vier Monaten hat er die Matura abgelegt. Jetzt muss er sich für ein Studium entscheiden. Die Zeit drängt, das Semester hat schon begonnen. Morgen um elf Uhr dreißig läuft die Immatrikulationsfrist ab.
Der Vater möchte, dass er Maschinenbau oder Ingenieurwissenschaften studiert. Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich ETH hat einen ausgezeichneten Ruf, und am Stadtrand stehen die besten Industriebetriebe der Welt. Brown und Boveri in Baden bauen die besten Turbinen der Welt, Sulzer in Winterthur baut die besten Webmaschinen und Dieselmotoren, die Maschinenfabrik Oerlikon die besten Lokomotiven. Mach Maschinenbau, sagt der Vater, als Techniker hast du ausgesorgt.
Der Vater selber ist nicht Techniker, sondern Getreidehändler. Getreidehandel mit Osteuropa ist vorbei, sagt der Vater, den kannst du vergessen. Die Grenzen sind dicht, die Zölle hoch und die Bolschewiken haben nicht alle Tassen im Schrank, mit denen kannst du keine Geschäfte machen. Getreide war gut für deinen Großvater, der ist damit reich geworden. Weizen aus der Ukraine, Kartoffeln aus Russland, fürs Gemüt ein bisschen ungarischer Rotwein und bosnische Trockenfeigen. Das waren die guten Zeiten damals, die Eisenbahn war schon gebaut und der Nationalismus hatte sich noch nicht so richtig durchgesetzt, und als Jude konnte man unter der Herrschaft der morschen Imperien so halbwegs auskommen. Schade, dass du unser Haus in Pilsen nie gesehen hast. Dein Großvater hat noch an den Getreidehandel geglaubt, deshalb hat er mich hierher nach Zürich geschickt. Ich habe gehorcht und bin hergekommen und Schweizer Bürger geworden, aber geglaubt habe ich damals schon nicht mehr daran. Jetzt bin ich hier und mache weiter, solange es eben geht. Für mich und deine Mutter wird’s schon noch reichen.
Dich aber, mein Sohn, wird das ukrainische Getreide nicht mehr ernähren, und deswegen rate ich dir: Mach Maschinenbau. Heute wird alles von Maschinen gemacht. Das Getreide wird von Maschinen ausgesät, von Maschinen geerntet und von Maschinen gemahlen, das Brot wird von Maschinen gebacken, unser Vieh wird von Maschinen geschlachtet, und die Häuser werden von Maschinen gebaut. Die Musik kommt aus Automaten, die ihrerseits von Automaten gebaut werden, und die Bilder macht nicht mehr der Maler, sondern der Fotoapparat. Bald werden wir auch für die Liebe Apparate benötigen und für das Sterben saubere, geräuschlose Maschinen haben, und auch die unauffällige Beseitigung der Kadaver werden diskrete Gerätschaften besorgen, und wir werden nicht mehr Gott anbeten, sondern eine Maschine oder den Namen ihres Herstellers, und der Messias, der den Weltfrieden bringt und in Jerusalem den Tempel wieder aufbaut, wird kein Sohn des Stammes Juda sein, sondern eine Maschine oder deren Erbauer. Die Welt ist eine einzige Maschine geworden, mein Sohn, deshalb rate ich dir: Geh an die ETH und mach Maschinenbau.
Der Sohn hört zu und nickt, denn er ist ein braver Sohn, der dem Vater den geschuldeten Respekt erweist. Bei sich selber aber denkt er: Nein, ich mache nicht Maschinenbau. Ich kenne diese Maschine. Lieber tu ich gar nichts im Leben, als dass ich ihr zudiene. Wenn ich überhaupt etwas mache, wird es etwas ganz und gar Nutzloses, Zweckfreies sein; etwas, das die Maschine sich keinesfalls dienstbar machen kann.
Der junge Mann hat das Wüten der Maschine eine halbe Kindheit und Jugend lang aus der Ferne studiert. Er war noch keine neun Jahre alt, als der Vater ihm die »Neue Zürcher Zeitung« mit der Schlagzeile aus Sarajevo über den Frühstückstisch reichte, und von da an las er täglich die Nachrichten von der Maas, der Marne und der Somme. Er schlug im Atlas nach, wo Ypern, Verdun und der Chemin des Dames lagen, hängte in seinem Bubenzimmer eine Europakarte übers Bett und spickte sie mit Stecknadeln, und er führte Statistiken in karierten Schulheften, in denen er die Toten erst zu Tausenden, dann zu Hunderttausenden und schließlich zu Millionen zusammenfasste. Aber nie gelang es ihm, in all dem Morden einen Sinn zu finden. Oder zumindest eine Logik. Oder eine plausible Ursache. Oder wenigstens einen ordentlichen Anlass.
Sich selbst zum Trost spielte er stundenlang Klavier im Wohnzimmer der
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