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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Eltern. Er war kein besonders begabter Schüler. Aber als ihm die Finger zu gehorchen begannen, entwickelte er eine tiefe Zuneigung zu Bachs Goldberg-Variationen, deren ruhige, zuverlässige und berechenbare Mechanik ihn an das galaktische Ballett der Planeten, Sonnen und Monde erinnerte.
    Er war, das berichtete er Jahrzehnte später in seinen handschriftlichen Lebenserinnerungen, ein einsames Kind. An der Grundschule quälten ihn die Mitschüler, weil er Schweizerdeutsch mit böhmischem Akzent sprach, und der Lehrer erinnerte die Klasse immer wieder gern daran, dass Felix einer bösen, fremdartigen Rasse angehöre.
    Seine Beschützerin und engste Vertraute war die drei Jahre ältere Schwester Clara. Als sie im zweiten Kriegsjahr starb, weil sie mit dem rechten Fuß in einen Nagel getreten war, versank er für Jahre in hoffnungsloser Schwermut. Die Ärzte konnten mit ihrer Wissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts zwar recht genau erklären, was sich in Claras Körper abspielte – die bakterielle Verunreinigung, die Sepsis, schließlich der Kollaps –, ihre Heilkunst aber kannte noch keine Therapie, die Claras qualvollen, sinnlosen und banalen Tod hätte verhindern können. In den folgenden Monaten ließen seine Leistungen am Gymnasium stark nach. Warum sollte er sich in Biologie und Chemie anstrengen, wenn die Wissenschaft im entscheidenden Moment ohne Nutzen blieb? Wozu sollte er überhaupt etwas lernen, wenn Erkenntnis ohne Nutzen war?
    Vergnügen bereitete ihm lediglich der Mathematikunterricht mit seinen verlässlichen, zweckfreien Gedankenspielen. Gleichungen mit mehreren Unbekannten, Trigonometrie, Kurvendiskussionen. Es war für den Jüngling eine Offenbarung, dass es in dieser aus den Fugen geratenen Welt etwas so Klares und Schönes wie das Verhältnis von Zahlen zueinander gab. Während der Herbstferien 1917 brachte er eine ganze Woche damit zu, mithilfe der Rotationsgeschwindigkeit der Erde, des Neigungswinkels ihrer Achse zur Sonne sowie Zürichs geographischer Breite die Dauer eines Oktobertags zu errechnen. Am nächsten Tag maß er mit seiner Taschenuhr die Zeitspanne von Sonnenaufgang bis -untergang und war unbeschreiblich glücklich, als die Messung mit seiner Berechnung übereinstimmte. Die Erfahrung, dass ein von ihm gedachter Gedanke – die trigonometrische Berechnung – tatsächlich etwas mit der realen Welt zu tun hatte und sogar mit ihr in Einklang stand, erfüllte ihn mit einer Ahnung von Harmonie zwischen Geist und Materie, die ihn zeitlebens nicht mehr verlassen sollte.
    Am meisten verstörte den Jüngling während der Kriegsjahre, dass sein Zeitungswissen über die Welt in scharfem Kontrast zu seiner alltäglichen empirischen Beobachtung stand. Wenn er in seinem Bubenzimmer aus dem Fenster schaute, sah er unten auf der Seehofstraße keine Füsiliere durch Laufgräben rennen und keine aufgeblähten Pferdekadaver in Bombenkratern liegen, sondern wohlgenährte Dienstmädchen, die überquellende Einkaufstaschen heimwärts trugen, und rotwangige Kinder, die auf dem Pflaster mit Glasmurmeln spielten. Er sah Taxifahrer, die zigarettenrauchend beisammenstanden und auf Kundschaft aus dem Opernhaus warteten, und er sah dösende Kutscher hinter dösenden Pferden und den Scherenschleifer, der von Tür zu Tür ging. Derart groß war der Friede in der Seehofstraße, dass nicht einmal Polizei zu sehen war. Diese friedliche Straße lag im Herzen einer unfassbar friedlichen Stadt, die im Herzen eines unfassbar friedlichen Landes lag, dessen Bauern auf ihren von den Ahnen ererbten Äckern bedächtigen Schrittes ihre Furchen zu einem Horizont hin zogen, hinter dem das große europäische Menschenschlachten geschah. Nur in besonders stillen Nächten war über den Rhein und den Schwarzwald hinweg das Donnergrollen der deutsch-französischen Front zu hören.
    Dieses Grollen verfolgte ihn in den Schlaf und schwoll dort zu ohrenbetäubendem Gebrüll an. In seinen Träumen watete er in Strömen von Blut durch zerfetzte Landstriche, und nach dem Aufwachen las er beim Frühstück im »Morgenblatt« in hilflosem Entsetzen, wie die Kriegsmaschine den Kontinent umpflügte und sich alles unter der Sonne einverleibte, was ihr irgendwie dienlich sein konnte. Sie verschluckte Mönche und spuckte sie als Feldprediger wieder aus, sie machte Hirtenhunde zu Grabenkötern und Flugzeugpioniere zu Kampfpiloten, Wildhüter zu Scharfschützen und Pianisten zu Feldmusikern und Kinderärzte zu Lazarettschlächtern, Philosophen zu

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