Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
legen müssen, um die Sterne am Nachthimmel sehen zu können, war sie ins Abteil gegangen und hatte sich schlafen gelegt in der muffigen Geborgenheit der Familie. Früh am Morgen aber, als der Zug sich endlich am Arlberg vornüberneigte und talabwärts Fahrt aufnahm, war sie mit ihrer Wolldecke zum Treppchen zurückgekehrt und hatte beobachtet, wie die Täler sich weiteten, die Berggipfel zurückwichen und im Sonnenaufgang erst den Dörfern und Bächen, dann den Städten und Flüssen und endlich den Seen Platz machten.
Die Eltern haben sich längst an den Eigensinn der Tochter gewöhnt, schon als kleines Mädchen hat sie draußen auf dem Treppchen gesessen. Während der zweiten oder dritten Bagdad-Tournee zwischen Tikrit und Mosul muss es gewesen sein, dass sie zum ersten Mal durch den Seitengang zur Ausgangstür lief, um die Kraniche am Ufer des Tigris besser sehen zu können; auf der Rückreise hatte sie sich wiederum aufs Treppchen gesetzt und war nicht loszureißen gewesen vom Anblick moskitoverseuchter Reisfelder, öder Steppen und rotglühender Gebirge. Seither sitzt sie immer auf ihrem Treppchen, auf der Fahrt durchs Nildelta von Alexandria nach Kairo genauso wie auf der Schmalspurbahn im Libanongebirge oder unterwegs von Konstantinopel nach Teheran. Immer sitzt sie auf dem Treppchen, schaut sich die Welt an und singt. Hin und wieder lässt sie es zu, dass eins ihrer Geschwister sich eine Weile zu ihr setzt. Aber dann will sie wieder allein sein.
In Kilchberg steigt ihr der Duft von Schokolade in die Nase, in ihrem Rücken zieht die prunkvolle Schlossfabrik von Lindt & Sprüngli vorbei. Auf dem See kreuzen ein paar Segelboote, an einer Anlegestelle liegt ein Raddampfer. Die Morgennebel haben sich verzogen. Der Himmel ist fahlblau. Die Wiesen am gegenüberliegenden Ufer sind, weil sich noch kein Frost übers Land gelegt hat, zu grün für die Jahreszeit. An der Spitze des Sees taucht aus dem Dunst die Stadt auf. Die Schiene beschreibt einen langen Bogen und vereinigt sich mit vier, acht, zwanzig anderen Schienen, die aus allen Himmelsrichtungen aufeinander zuführen, um schließlich parallel in den Hauptbahnhof zu münden.
Gut möglich, dass dem Mädchen bei der Einfahrt in die Stadt jener junge Mann auffiel, der im November 1924 oft zwischen den Gleisen auf der Laderampe eines grau verwitterten Güterschuppens saß, um die ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten und sich Gedanken über sein weiteres Leben zu machen. Ich stelle mir vor, wie er seine Mütze knetete, während der Orient-Express an ihm vorüberfuhr, und dass ihm das Mädchen im hintersten Wagen ins Auge fiel, das ihn mit beiläufigem Interesse musterte.
Der Bursche passt nicht recht zur Laderampe und zum Güterschuppen. Rangierarbeiter oder Gleisbauer ist er jedenfalls nicht, und Kofferträger auch nicht. Er trägt Knickerbockers und eine Tweedjacke, und seine Schuhe glänzen in der Herbstsonne. Sein ebenmäßiges Gesicht zeugt von einer sorgenfreien Kindheit, oder zumindest einer katastrophenarmen. Die Haut ist klar, Augen, Nase, Mund und Kinn sind rechtwinklig angeordnet wie die Fenster und Türen an einem Haus. Sein braunes Haar ist akkurat gescheitelt. Ein bisschen zu akkurat vielleicht.
Sie sieht, dass sein Blick ihr folgt, und dass er sie anschaut, wie ein Mann eine Frau anschaut. Es ist noch nicht lange her, dass Männer sie so anschauen. Die meisten merken dann rasch, wie jung sie noch ist, und wenden sich verlegen ab. Der hier scheint es nicht zu merken. Der Bursche gefällt ihr. Stark und friedfertig sieht er aus. Und nicht dumm.
Er hebt grüßend die Hand, sie erwidert den Gruß. Dabei wedelt sie nicht mädchenhaft mit der Hand und winkt auch nicht mit allen fünf Fingern einzeln wie eine Kokotte, sondern hebt wie er lässig die Hand. Er lächelt, sie lächelt zurück.
Dann verlieren sie einander aus den Augen und werden sich nie wiedersehen, das ist dem Mädchen klar. Sie ist eine erfahrene Reisende und weiß, dass man einander normalerweise nur einmal begegnet, weil jede vernünftige Reise in möglichst gerader Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel führt und zwei Geraden sich nach den Gesetzen der Geometrie nicht zweimal kreuzen. Ein Wiedersehen gibt es nur unter Dörflern, Talbewohnern und Insulanern, die lebenslang dieselben Trampelpfade begehen und einander deshalb ständig über den Weg laufen.
Der junge Mann auf der Laderampe ist zwar kein Dörfler und kein Insulaner, aber in Zürich geboren und aufgewachsen und mit den
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