Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
lebensecht erhaltener Moorleichen friedlich beisammenlägen, die einander unter der Sonne niemals hätten begegnen können – keltische Fischer neben burgundischen Kreuzrittern, römische Legionäre neben deutschen Rom-Pilgern, maurische Entdecker neben venezianischen Gewürzhändlern und alemannischen Hirtenmädchen –, wobei die einen vielleicht aus Liebeskummer in den Sumpf gegangen waren und andere im Jagdfieber, wieder andere im Suff oder aus Dummheit oder aus Geiz, weil sie dem Grafen von Chillon den Wegzoll nicht hatten entrichten wollen; und irgendwo mussten, als würden sie nur schlafen, auch die hundertsiebenundzwanzig Juden von Villeneuve liegen, die 1348 während der Pestepidemie von der Bürgerschaft wegen Brunnenvergiftens massakriert und in den Sumpf geworfen worden waren.
    Ach, die Bürger von Villeneuve.
    Der Vater hatte eine ganze Kindheit und Jugend mit ihnen verbracht, und auch wenn er danach ein halbes Jahrhundert im Exil gelebt hatte, war er doch einer von ihnen geblieben. Vielleicht war er als junger Mann nur deshalb aus Villeneuve geflohen, um einer von ihnen bleiben zu können und nicht endgültig verstoßen zu werden.
    Die Bürger von Villeneuve waren Fischer, Bauern und Fuhrleute, arbeitsame Protestanten und brave Untertanen, die ihren Platz kannten in einer festgefügten Welt. Jeder Fischersohn wusste, dass er zeitlebens auf den See hinausfahren würde, und jeder Bauernsohn wusste, dass er die von den Vätern ererbten Äcker bestellen würde bis ans Ende seiner Tage; das war so selbstverständlich, dass man nicht darüber nachdenken musste. Mitte zwanzig wurde geheiratet und mit fünfzig gestorben, und den Erstgeborenen taufte man auf den Vatersnamen, und um halb zehn war Lichterlöschen, und mittwochs wohnte man seiner Frau bei, und freitags gab es Fisch. Sonntags ging man zur Messe und trug eine schwarze Jacke. Und nicht etwa eine graue. Oder gar eine blaue.
    Natürlich gab es auch in Villeneuve immer ein paar Milchbärte, die blaue Jacken trugen, um den Mädchen zu gefallen, und zu allen Zeiten hatte es ein Rudel Welpen gegeben, das durch die Gassen zog und davon träumte, Villeneuve hinter sich zu lassen und über den Großen Sankt Bernhard nach Italien abzuhauen. Dafür hatten die Bürger Verständnis, denn sie waren auch einmal jung gewesen. Genauso klar war aber, dass der Spaß irgendwann ein Ende haben musste, spätestens nach dem zwanzigsten Geburtstag hörte der Welpenschutz auf. Wer dann noch eine blaue Jacke trug, tat vielleicht tatsächlich besser daran, über den Großen Sankt Bernhard zu verschwinden.
    Ach, die Bürger von Villeneuve. So ausschweifend der Vater über den Sumpf hatte schimpfen können, so milde hatte er immer seinen weißen Spitzbart gestreichelt, wenn die Rede auf die Bürger von Villeneuve gekommen war. Der Sohn hatte früh verstanden, dass der Vater den Sumpf von Villeneuve nur deshalb so leidenschaftlich hassen musste, weil er die Bürger weiterhin lieben wollte.
    Emile Gilliéron nimmt den Koffer wieder auf, überquert den Bahnhofplatz und biegt ein in die nachtschwarze Grande Rue, die gesäumt ist von mittelalterlichen Fachwerkbauten. Alle Fenster sind dunkel, dabei ist es noch nicht einmal zehn. Rechts eine Apotheke, links eine Bäckerei, rechts eine Metzgerei, links das »Hotel de l’Aigle«. Dort isst man angeblich recht gut, aber die Fenster sind schon dunkel. In einer Seitengasse hängt ein Fischernetz zum Trocknen, in der nächsten duftet ein Miststock nach Kleinvieh.
    Vor der Kirche plätschert einsam ein großer Brunnen. Dort muss sich der Waschtrog befinden, von dem der Vater erzählt hat. Viele Jahrhunderte lang hatten die Frauen von Villeneuve an diesem Trog ihre Wäsche gewaschen und nicht beachtet, dass er an einer Ecke gestützt wurde durch eine auffällig runde Säule, welche die Aufschrift » XXVI « trug. Eines Tages war der Kantonsarchäologe aus Lausanne vorbeigekommen und hatte den Bürgern von Villeneuve erklärt, dass sie einen zweitausend Jahre alten Meilenstein der Altrömischen Heeresstraße unter ihrem Waschtrog hätten, und dass die Zahl Sechsundzwanzig die Entfernung zur Garnisonsstadt Martigny in römischen Meilen angebe. Da hatten die Bürger bedächtig genickt, die Köpfe schief gelegt und beifällig ihren römischen Stein betrachtet, und manche hatten »Tiens donc« gemurmelt und »Sacré Romains« oder »ça, par exemple«. Als aber der Kantonsarchäologe die Bürger bat, das Zeugnis der Vergangenheit vor Witterung

Weitere Kostenlose Bücher