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Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)

Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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sind. Die Straße queren nur wenige Autos und zwei Lastwagen der Briten, doch Hunderte Fußgänger halten diszipliniert an der Ampel, bis sie auf Grün springt.
    Die Mönkebergstraße war einmal Hamburgs beliebteste Einkaufsmeile. Sie ist schmaler geworden, weil noch immer Trümmer und Fassadenreste auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten liegen. Doch viele Geschäfte sind wieder geöffnet. Stave passiert das Levantehaus, dann den wuchtigen Klotz von C&A, das früher ein jüdisches Geschäft war, 1938 jedoch »günstig arisiert« worden ist. Der Oberinspektor hätte gedacht, dass man es nach dem Mai 1945 den alten Eigentümern zurückgeben würde, doch das war nie geschehen. Vielleicht gab es ja keine alten Eigentümer mehr.
    Der Kripo-Beamte blickt in die Schaufenster zu beiden Straßenseiten. Auf seinem Bezugsschein gab es zehn amerikanische Zigaretten für Juni. Zusammen mit den Glimmstängeln der letzten Monate, die er allesamt aufgespart hatte, waren sie an seinen Sohn gegangen. Der hatte die Schätze auf dem Schwarzmarkt zu Reichsmark gemacht. Auch ein nettes Geschäft, das ich nicht mehr machen kann, denkt Stave, nun, wo er beim Chefamt S ist. Mit den Reichsmarkbündeln in der Hand fühlt er sich beinahe wie in Friedenszeiten – aber nicht lange.
    Die Auslagen sind höhnisch leer. Ein Teller hier, eine Hose dort, einige dünne Mäntel daneben. Stave geht in das Geschäft gegenüber von C&A, wo ein Relief aus martialischen Steinfiguren und einem Löwen das Portal bewacht.
    »Waren die Russen bei Ihnen?«, fragt er einen müden jungen Verkäufer. »Der Laden sieht aus, als wäre er leergeplündert.«
    Ein abschätzender Blick. »Kommen Sie gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurück?«
    »So ähnlich.«
    »Alle reden seit Wochen nur noch vom Tag X, deshalb gibt es hier so wenig.«
    »Der Tag X ist schuld?«
    »Unsere zweite Kapitulation. Die Kapitulation der Reichsmark. Der Tag, wenn uns die Amis neues Geld geben. Keiner weiß genau, wann das Geld eingeführt wird oder wie viel jeder von uns bekommen soll. Aber dass neues Geld kommen wird, das ist mal klar. Das muss ja so sein. Hier funktioniert nichts mehr.«
    »Und deshalb verkaufen Sie nichts mehr gegen altes Geld?«
    »Wir verkaufen, was wir auf Lager haben. Aber die Firmen produzieren nichts mehr. Oder sie produzieren, aber horten dann.
    »Haben Sie noch ein Herrenhemd, meine Größe?«
    »Nein.« Dann blickt sich der Verkäufer um, beugt sich vertraulich vor. »Versuchen Sie es doch mal beim Otto-Reuter-Geschäft.«
    Stave lächelt leicht. Otto Reuter, O.R., »Ohne Rechnung«, ein kleiner Handel an der Steuer vorbei. Der Kerl würde dumm gucken, wenn er jetzt seinen Polizeiausweis zückte. Aber andererseits: Würde er dann ein Hemd bekommen?
    »Was hat Otto Reuter da?«
    »Bloß noch ein einfaches Arbeitshemd, hellblau. 22,50   Reichsmark.«
    Der Oberinspektor verzieht keine Miene. Vor dem Krieg hat so etwas 3,50   Reichsmark gekostet. Aber was soll’s? Wenn schon sehr bald das alte Geld nichts mehr wert sein wird, dann ist jeder Preis ein guter Preis. Er legt 23   Reichsmarklappen auf den Tresen.
    Der Verkäufer verschwindet in einem Lager und erscheint bald darauf mit einem in Packpapier eingewickelten Hemd. Er gibt ihm fünf Zehn-Pfennig-Briefmarken zurück.
    »Keine Münzen?«
    »Münzen werden gehortet. Es gibt Gerüchte, dass sie nicht entwertet werden. Und selbst wenn: Metall ist Metall. Da hat man was in der Hand.«
    »Hoffen wir, dass der Tag X bald kommt. Sonst können wir keine Briefe mehr schreiben.« Stave ist sich ziemlich sicher, dass es illegal ist, Briefmarken als Geldersatz auszugeben. Er stopft die Marken in seine Brieftasche. »Gibt es hier irgendwo Rasierklingen?«
    »Drei Läden weiter. Zum Sechzehnfachen des offiziellen Preises. War heute Mittag zumindest noch so.«
    »Otto Reuter?«
    »Sie waren wirklich lange weg.«
    Am späten Abend sitzt Stave erschöpft in seinem kargen Wohnzimmer und blickt hinaus. Im Fenster sind Hitzespuren vom Feuersturm 1943 zurückgeblieben: kleine, amöbenförmige angeschmolzene Stellen im Glas, in denen sich das gelbliche Mondlicht bricht. Der Regen hat aufgehört, die Wolkendecke ist zerrissen. Aber die Luft ist kalt, der Nordwestwind böig. Das ist bloß eine Pause, denkt der Kripo-Beamte, das ganze lange Wochenende wird es unangenehm bleiben.
    Seine Gedanken wandern zu den zerschmetterten Kunstwerken im Reimershof. Und zu der Leiche, deren Identität er nicht nachforschen darf. Einer von

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