Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
Tote ist ein Mann, dafür sprechen die Form des Beckens ebenso wie Schädel, Hände, Arme, Beine. Ein Erwachsener, etwa 1,70 Meter groß, schlanker Körperbau. Dem Zustand der Zähne und Gelenke nach schätze ich ihn auf älter als dreißig und jünger als fünfzig. Kein Wehrmachtssoldat.«
»Das können Sie bei einer Obduktion erkennen?«
»Er hatte Verwachsungen am linken Fuß«, erwidert Czrisini trocken. »Auf Deutsch: einen Klumpfuß. Den hätte nicht mal der Adolf genommen.«
»Der Führer hatte für mindestens einen Klumpfuß Verwendung«, erwidert der Oberinspektor und verlagert dabei unauffällig sein Gewicht auf sein rechtes Bein. Absurderweise ist es ihm wegen seiner eigenen Verletzung peinlich, dass der Rechtsmediziner über einen Klumpfuß spricht.
»Noch etwas«, fährt Czrisini fort und tut so, als habe er die Reaktion des Kripo-Beamten nicht bemerkt. »Der Tote trug gute Lederschuhe, die viel besser erhalten geblieben sind als die Kleiderfetzen am Leib.«
»Er musste sich jedes Paar beim Schuster fertigen lassen.«
»Danken wir dem unbekannten Schuster. Hier.« Czrisini holt aus einer Pappschachtel ein Paar schwarzer Lederschuhe hervor: der rechte elegant, trotz der Schimmelspuren auf dem Oberleder, der linke hingegen sieht aus wie ein ausgebeulter Kohlensack mit Schnürsenkeln. Der Gerichtsmediziner deutet auf die Sohlen. »Echtes Leder, kein Gummi. Schön glatt. Wenn Sie damit gehen, zerkratzt praktisch bei jedem Schritt die Oberfläche ein wenig, da reicht schon ein Sandkorn, auf das man tritt. Mit der Zeit bilden sich am Absatz und unter dem Ballen Muster aus unzähligen Strichen, als hätte da jemand mit einem harten Bleistift wild gekritzelt.«
Er holt eine Lupe hervor. »Nun sehen Sie.«
Stave entscheidet sich für den rechten Schuh und untersucht die Sohle unter dem Glas. Viele helle Linien unter Ballen und Fersen, aber auch einige eingegrabene Striche im Hohlraum der Fußbeuge. »Verdammt«, sagt er.
Czrisini nickt bestätigend. »Klassische Spuren: Der Träger dieser Schuhe ist gefallen und liegt am Boden. Normalerweise zerkratzen wir uns nämlich die Sohlen nur dort, wo wir auftreten: Ballen und Ferse. Doch der Herr hier muss liegend mit den Füßen gegen eine Mauer, einen Bordstein, irgendetwas Festes oder Raues getreten haben, sodass seine Schuhe auch dort Markierungen zeigen, wo normalerweise nie welche sind. Wäre er später wieder aufgestanden, wären die Kratzspuren in der Fußbeuge nicht mehr so frisch gewesen wie die an Ballen und Ferse. Die letzten Bewegungen mit seinen Füßen hat er also wahrscheinlich in der Horizontalen gemacht und das …«
»… bedeutet, dass er sich noch am Boden liegend gewehrt hat, oder aber, dass seine Füße im Todeskampf gegen etwas stießen«, vollendet Stave. »Ein heftiger Schlag auf den Schädel, der den Knochen zertrümmert«, sinniert er, »der Mann stürzt, das Todeszucken schüttelt seinen Leib, dabei tritt er mit den Sohlen gegen eine Wand oder Ähnliches, Ende.«
»Nette Theorie.«
»Steht das so in Ihrem Bericht an Dönnecke?«
»Der Oberinspektor war nicht wirklich glücklich darüber. Er sagte, dass ein einstürzendes Haus alle möglichen Spuren bei Leichen hinterlässt. Ich solle mir um die verdammten Ledersohlen keine Gedanken machen.«
Stave schweigt lange. »Was, glauben Sie, werden Sie entdecken, wenn Sie sich den Toten noch einmal vornehmen?«, will er schließlich wissen.
Ein Achselzucken. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich denke nur, dass unser namenloser Freund es verdient hat, dass ich ihn mir noch einmal genauer ansehe.«
»Jetzt?«
Czrisini schüttelt den Kopf. »Ich bin müde. Der Tote wird mir nicht davonlaufen.«
Der Oberinspektor blickt ihn an, die eingefallenen Wangen, die gelbliche Haut, die Hände, die leicht zittern. Früher hätte Czrisini sich die Nacht um die Ohren geschlagen, um einem Toten sein Geheimnis abzuringen.
»Gut«, sagt er. »Danke für Ihre diskrete Hilfe.«
Stave schlendert abends die Alster entlang. Er hat keine Eile, denn niemand wartet in der Wohnung auf ihn. Wenn wenigstens der Sommer seinen Namen verdienen würde, denkt er, dann könnte er die milden letzten Stunden des Tages auf dem Balkon verbringen. Seine dunklen, klammen Zimmer kommen ihm wie Gefängniszellen vor. Stave geht über die Lombardbrücke und entschließt sich, einen Umweg über die Mönkebergstraße zu machen. Im Regen leuchtet das rote Licht der Ampel, einer der beiden, die in Hamburg wieder in Betrieb
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