Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
Zehntausenden Toten der Kriegszeit. Wen kümmert heute so ein Schicksal? Heute denken alle an das neue Geld. Er ertappt sich dabei, dass er seit mindestens einigen Minuten mit der Hand über die Narbe knapp unterhalb des Herzens streicht. Noch mal Glück gehabt, sagt er sich. Doch schließlich denkt er an Karl, der in seinem Schrebergarten hockt und Tabak anbaut. An Anna, die in diesem Augenblick vielleicht in ihrer feuchten Kellerwohnung in Altona aus dem hoch gelegenen Fenster in den gleichen Himmel starrt. Oder die noch zwischen einsturzgefährdeten Trümmern unterwegs ist, das Mondlicht ausnutzend, um Kunstwerke und Antiquitäten aus den Ruinen zu bergen. Oder die vielleicht gar nicht allein ist, die lacht oder … Er zwingt diese Gedanken fort. Glück, denkt er, ist das falsche Wort, um meinen Zustand zu beschreiben.
Unbekannte Scheine
Montag, 14. Juni 1948
Am frühen Morgen verlässt Stave nachdenklich das Haus. Er hat einen Nachbarn im Erdgeschoss: Kurt Flasch, etwa vierzig Jahre alt, klein, nervös, dürr, die wenigen dunklen Haare quer über die Glatze gekämmt, eine in der Mitte gelötete Nickelbrille auf der Nase, die seine dunklen Augen wie unter Vergrößerungsgläsern leuchten lässt. Seine Gattin ist fast zwei Köpfe größer als er und mindestens doppelt so schwer, seine beiden halbwüchsigen Jungen haben ständig Flausen im Kopf. Ein Mann, dem die Familie die Lohntüte leerisst und der immer in Sorge lebt, ebenjene Tüte zu verlieren. Ein braver Beamter, der im März 1933 schnell in die NSDAP eingetreten und noch 1945 schnell von den Engländern in einem der ersten Entnazifizierungsverfahren wieder gecleart worden ist. Jemand, mit dem der Oberinspektor nie mehr als die üblichen Nachbarschaftsfloskeln gewechselt hat – bis zu jenem Wochenende. Denn Kurt Flasch ist Beamter bei der Landeszentralbank in Hamburg.
Also hatte der Kripo-Mann Sonntagmittag vor der Ahrensburger Straße 93 gewartet, weil er wusste, dass um diese Zeit Flasch von seiner allwöchentlichen »Herrenrunde« zurückkehrte, einem Frühschoppen in einer Eckkneipe, befeuert von billigem Bier und selbstgebranntem Schnaps. Vor dem Haus war er auf ihn zugetreten und hatte so getan, als sei es eine zufällige Begegnung gewesen. Er ist kein guter Schauspieler, aber Flasch war zu dieser Stunde schon nicht mehr so nüchtern gewesen, dass ihm etwas aufgefallen wäre. Der Nachbar hatte endlose Minuten gebraucht, um den Schlüssel aus seiner Hosentasche zu fummeln.
»Bald muss niemand mehr abschließen«, hatte Stave wie beiläufig bemerkt, während er die fahrigen Bewegungen des anderen beobachtete und sich zwingen musste, ihm nicht den Schlüssel zu entreißen und die Tür zu öffnen. »Am Tag X sind wir alle so ruiniert, dass sich ein Einbruch nicht mehr lohnt.«
Flasch hatte seine Bemühungen vorübergehend aufgegeben und den Schlüssel gehoben wie ein Lehrer seinen Stock. »Ab dem Tag X werden wir uns alle zusätzliche Schlösser kaufen müssen!«, erwiderte er mit leicht schleppender Stimme.
»Das neue Geld wird uns genauso wenig satt machen wie die alte Reichsmark.«
»Papperlapapp. Geld ist Vertrauen auf Papier. Niemand traut mehr den alten Lappen. Aber das neue Geld wird von den Amerikanern kommen, das ist solide. Und wenn die Leute erst wieder echtes Geld verdienen, dann werden sie auch echte Dinge produzieren und echte Dinge kaufen. Es geht aufwärts, Sie werden sehen. Das Schwarzmarktpack wird an unseren Türen kratzen.«
»Wann?«
Flasch hatte seinen Schlüssel nun ganz vergessen. Er blickte sich um, doch bei dem schlechten Wetter war die Ahrensburger Straße beinahe leer. »Im Mai haben in Bremerhaven amerikanische Frachter an einen besonders bewachten Kai angelegt. US-Soldaten haben 23 000 Holzkisten entladen. Sie sind sofort in acht Sonderzüge gebracht worden. Nach Frankfurt!«
Flasch hatte ihn triumphierend angesehen, doch dann bemerkt, dass Stave die Pointe nicht verstanden hatte.
»In Frankfurt steht doch die Zentrale der Reichsbank!«, war er fortgefahren. »Mit den größten Tresoren Deutschlands! Was wird wohl in diesen 23 000 Kisten sein? Schokolade?« Er lachte.
»In Frankfurt befindet sich auch das Hauptquartier der Amerikaner«, erwiderte Stave. »Das könnte ebenso gut Munition sein. Oder Dollarbündel für die Soldaten.«
Flasch tippte sich auf die Nase. »Ich bin jetzt lange genug bei der Landeszentralbank. Ich kann Geld riechen, selbst wenn es in Frankfurter Tresoren liegt.«
Dafür, dass du
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